Autor
›nu sprechet umb die nahtegalen!‹
[...]
welhiu sol ir baniere tragen,
sît diu von Hagenouwe,
ir aller leitevrouwe
der werlde alsus geswigen ist,
diu aller dœne houbetlist
versigelt in ir zungen truoc?
Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹
(Ausgabe Haug/Scholz, V. 4774, 4778–4783)
Mit der berühmten ›Nachtigall von Hagenau‹, der unerreichten leitevrouwe aller Minnesänger, wird in der Regel Reinmar identifiziert, der damit im Literaturexkurs des ›Tristan‹ einer von nur zwei konkret benannten Minnesängern wäre (der andere ist Walther von der Vogelweide). Ausgerechnet diese folgenreiche Benennung, die in der älteren Forschung als Namenszusatz behandelt wurde (›Reinmar von Hagenau‹), gibt jedoch Rätsel auf und ist durch keine andere Quelle belegt. (Eine Übersicht über zeitgenössische Nennungen Reinmars gibt Tervooren, S. 97–99.) ›Hagenau‹ wird meist als Geschlechts- oder Herkunftsort gesehen (kritisch dazu Schweikle 1969, S. 1–23), wobei keine Einigkeit erzielt ist im Hinblick darauf, welches Hagenau gemeint ist. Womöglich ist mit Hagenau als wichtiger staufischer Kaiserpfalz schlicht eine der Wirkstätten Reinmars gemeint (vgl. Schweikle 1989, Sp. 1183, Schweikle 1969, S. 18). Eine der bekanntesten Benennungen Reinmars ist damit zugleich eine der umstrittensten.
Durch zeitgenössische Zuschreibung belegt ist hingegen der Namenszusatz ›der Alte‹, der in der Manessischen Liederhandschrift C als Überschrift zum Autorbild zu finden ist (Her Reinmar der Alte). Er dient vermutlich primär der Unterscheidung Reinmars von anderen Namensträgern (vgl. dazu auch Hausmann, Sp. 137) und hängt möglicherweise mit der Nennung von ›Reinmar dem Jungen‹ in A zusammen (vgl. Schweikle 1969, S. 4).
Urkundliche Zeugnisse sind nicht bekannt. Da Gottfried ihn als verstorben beschreibt, wird ein Todesdatum im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts angenommen, wofür auch die Nachrufstrophen Walthers von der Vogelweide auf Reinmar sprechen (C Wa 34 et al.), datiert um 1208/09 (vgl. dazu auch Schweikle 1989, Sp. 1182).
Ein zentrales Argument der Forschung, Reinmar mit Wien in Verbindung zu bringen, liegt in C Reinm 68 69 et al. Der in dieser Totenklage in BC namentlich genannte Liupolt (C I,8) wird mit dem 1194 gestorbenen österreichischen Herzog Leopold V. identifiziert. Wie eng Reinmar mit Wien verbunden ist, ist jedoch ungewiss. Schweikle 1969, S. 23–27, etwa vermutet zwar einen temporären Aufenthalt Reinmars in Wien, hält ihn aber grundsätzlich für einen fahrenden Sänger.
Überlieferung
Hauptzeugen für das umfangreiche Korpus Reinmars sind die vier Handschriften ABCE: A überliefert 70 Strophen unter seinem Namen, B (rechnet man die im ursprünglich namenlosen Abschnitt B *Reinm dazu) 122, C 262 und E 164. Die Überlieferung von B und C stimmt in weiten Teilen überein, wobei die zahlreichen Zusatzstrophen in C auffallen (Hausmann, S. 70, spricht mit Bezug auf B von ›Schluss-‹ und ›Zweitstrophenschwund‹). A und E weichen sowohl im Textbestand als auch in der Strophenanordnung häufig von der BC-Überlieferung ab.
Für genauere Informationen siehe auch die Korpuskommentare zu A B C E. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf den ursprünglich namenlosen Abschnitt der Hs. B, der traditionell zur Reinmar-Überlieferung gerechnet wird (B *Reinm), wobei die Strophen B *Reinm 84–87 keine Parallelüberlieferung unter Reinmar haben: B *Reinm 84 ist unikal überliefert und B *Reinm 85–87 werden in ACE unter Walther geführt.
Korpuskonstruktionen
Insbesondere in der älteren Forschung dominieren biographistische Interpretationen von Reinmars Liedern, die auf die Konstruktion inhaltlich sowie formal harmonischer Zyklen ausgerichtet sind und zu zahlreichen Athetesen geführt haben: In seiner Reinmar-Studie beschreibt von Kraus II, S. 3, den Dichter als »Schöpfer eines großen Liebesromans«, bestehend aus 35 Liedern. »Es geht ihm [von Kraus] auf beiden Ebenen [des Liedes sowie des Œuvres] um die Herstellung einer ›Minnehandlung‹« (Hausmann, S. 5). In seiner Ausgabe von ›Minnesangs Frühling‹ (MF/K) von 1940 führt er dann 34 von ihm als ›echt‹ klassifizierte Töne unter Reinmar. (Anders als in seiner früheren Studie nimmt er C Reinm 125–128 dazu, wohingegen er C Reinm 92–94 sowie E Reinm 48–52 als unecht ausschließt.) Schneider schließt sich zwar der Zykluskonstruktion von von Kraus an, widerspricht aber dem Verständnis als ›Liebesroman‹: »der sog. Zyklus ist in keiner Weise als Roman gedacht, als Auf und Ab einer Liebesgeschichte. [...] Reinmar wahrt im ganzen den Anschein unerschütterlicher Stäte, schlüpft aber als Dichter unbekümmert in alle möglichen Masken« (S. 248f.) (zur Rollenvielfalt s. auch Abschnitt ›Werk‹). Nordmeyer führt die Athetesen weiter und erklärt sogar einzelne Strophen und Verse für unecht (vgl. z. B. Nordmeyer 1930: Fehde, Nordmeyer 1932, Nordmeyer 1930: Anti-Reinmar).
Umfangreiche Kritik an den Kraus’schen Athetesen äußert Maurer: Er geht in seiner Studie zunächst davon aus, dass alle die in den Handschriften allein Reinmar zugeschriebenen Lieder als echt gelten und orientiert sich bei der Beurteilung der anderen Strophen insbesondere am Kriterium der Form (vgl. S. 31, 46). So spricht er sich für die Echtheit von 25 Reinmar abgesprochenen Tönen aus (vgl. S. 167), äußert sich bei anderen Strophen unentschieden (seiner Nummerierung folgend bei den Tönen XXIX [E Reinm 156–159], XXXI [E Reinm 59f.]) und ordnet fünf Töne der Reinmar-Rugge-Vermischung (s. dazu unten) Reinmar zu (Töne II A-C [C Reinm 188–190 et al.; C Reinm 191 et al.; C Reinm 192 et al.] sowie III [C Reinm 163–173 et al.] und IV [C Reinm 160–162 + 186f. et al.]).
MF/MT orientieren sich bei Echtheitsfragen an Maurer, bezüglich der Liedanordnung an MF/LH (vgl. MF/MTE, S. 103). Sie ordnen die Strophen in 60 Töne, ergänzt um acht weitere, die bei Lachmann/Haupt und Vogt in den Anmerkungen stehen und in MF/MT unter ›Pseudo-Reinmar‹ zusammengefasst werden.
Ähnlich wie Maurer geht auch Tervooren in seinen Reinmar-Studien von der Prämisse aus, dass den Dichterzuschreibungen in den Überlieferungszeugen zunächst Glauben zu schenken ist, und betont die Heterogenität und Komplexität des Reinmar-Korpus (vgl. ferner Tervooren: ›Brauchen wir ein neues Reinmar-Bild?‹). Auch Bertau legt den Fokus auf die »Reinmar-Zuweisungen« (S. 392) in den Handschriften, wobei er »sechs mehr oder weniger distinkte[] Vorsammlungen« (S. 393) konturiert. Ebenso verfolgt Hausmann einen überlieferungsgeschichtlichen Ansatz, wobei er zudem das Kriterium der historischen Relevanz einführt. So fragt er – statt nach der Echtheit der Texte – nach ihrer Rezeptionswirksamkeit. Dabei geht er von einer aus den überlieferten Texten ableitbaren Autorkonstruktion aus und orientiert sich, ausgehend vom Konzept der Mutabilität, an der aus der Überlieferungskonstanz abgeleiteten historischen Relevanz der Texte (vgl. insb. S. 8f., 38f.).
Die Miniaturen
Sowohl in B als auch in C ist das das Reinmar-Korpus einleitende Autorbild zweigeteilt: Oben links befindet sich ein Schild, dessen Streifenmuster im Helmschmuck (rechts daneben) aufgegriffen und um eine Helmzier aus Pfauenfedern ergänzt wird. Historische Nachweise des Wappens sind jedoch nicht bekannt.
Der untere Teil des Bildes zeigt einen Mann und eine Frau nebeneinandersitzend, wobei die Frau durch ihre Kleidung (in C zusätzlich über das Hündchen im Schoß) als höfische Dame zu erkennen ist. Der Mann ist mit dem Attribut der Schriftrolle als Dichter markiert und seine Handhaltung (in C hält er die Schriftrolle in der linken Hand und verweist mit der rechten auf sie; in B hält er sie in beiden Händen) zeigt ihn beim Vortrag. Die Dame ist ihm zugewandt und signalisiert wiederum über ihre erhobenen Hände ihre Teilnahme. Ikonographische Parallelen zum Bildtypus der Marienkrönung werden insbesondere in C evident, wo die Dreipassbögen über den Figuren an die Darstellungsform von Heiligenscheinen erinnern (zur Bildbeschreibung in C vgl. auch Walther, S. 74f.).
Doppelzuschreibungen
Einige Strophen werden in den Handschriften nicht nur Reinmar, sondern auch anderen Dichtern zugeschrieben. Es finden sich etwa Parallelüberlieferungen unter Dietmar von Aist, Friedrich von Hausen, Gedrut, Gottfried von Neifen, Hartmann von Aue, Heinrich von Morungen, Leuthold von Seven, Meinloh von Sevelingen, Niune, Reinmar dem Fiedeler, Rubin, Rudolf von Rotenburg, Spervogel sowie Walther von Mezze.
Eine besondere Rolle nimmt die Verwechslung Reinmars mit Reinmar von Zweter ein. In MF/MT werden zwei in R1 unter Der von zweter überlieferte Strophen, trotz fehlender Parallelüberlieferungen unter Reinmar, als Ton LXVIII Reinmars geführt (R₁ Zwet 1 2). Aufschlussreich ist in diesem Kontext das ›Hausbuch des Michael de Leone‹ (E): Es enthält direkt nacheinander zwei Liedersammlungen, eine Walthers von der Vogelweide und eine Reinmars. Am Ende der Strophen (fol. 191va) findet sich folgender Nachtrag:
Her walther uon der uogelweide· begra
ben ze wirzeburg· zv dem Nuwemunſter in dem gra
ſehoue· vnd er reimar von zwetel an dem
Rin· begraben in franken ze Eſfelt· bie
irn ziten tiechten und ſungen gein ein ander
widerstriet·
Fast alle in E überlieferten Strophen stehen in anderen Handschriften im Reinmar-Korpus, werden hier aber trotzdem Reinmar von Zweter zugeschrieben. Einerseits kann der lokale Bezug als Begründung verstanden werden, warum der Dichter in die Würzburger Liederhandschrift aufgenommen wurde (vgl. dazu auch Kornrumpf, S. 14); andererseits führt der Hinweis auf den ›Widerstreit‹ zwischen Reinmar und Walther von der Vogelweide zu der in der Forschung viel diskutierten Frage nach einem vermeintlichen Sängerstreit der beiden Dichter.
Die vermeintliche Reinmar-Walther-Fehde
Bauschke widmet sich der Thematik am Beispiel der Handschrift E und sieht in dem Nachtrag ein Mittel zur Rezeptionssteuerung: Die »Handschrift fordert damit gleichsam selbst auf, den Konturen eines Sängerstreites nachzuspüren« (S. 231). Doch bei der Analyse der Überlieferung arbeitet sie heraus, dass zentrale Texte der Fehde-Diskussion nicht in E aufgenommen wurden, bei den aufgenommenen Liedern wiederum der Bezug auf den jeweils anderen Dichter abgeschwächt ist und allgemein eine starke Intertextualität zu erkennen ist, in der auch Bezüge etwa auf Neidhart und Heinrich von Morungen relevant werden. So kommt sie zu dem Schluss: »Der Nachsatz zum Sängerstreit ist damit nicht primär als Leseanweisung zu verstehen, sondern er ergänzt die Liedkorpora um eine Information, die aus den Liedern der Würzburger Handschrift selbst nicht abzuleiten bzw. nicht offenkundig ist. [...] Doch daß die Legendenbildung um Walther und Reinmar schon im 14. Jahrhundert nachweisbar ist, bedeutet keinesfalls, daß sie in der heutigen Forschung weitergeschrieben werden dürfte« (S. 249f.).
Was als gesichert gelten darf, ist die Auseinandersetzung der beiden Dichter miteinander: Über (parodistische) Anspielungen, Abwandlungen, Zitate und Motivbezüge haben Walther und Reinmar »literarisch miteinander kommuniziert« (Bauschke, S. 227). Daraus eine persönliche Fehde abzuleiten, wird jedoch heute kritisch bewertet (für einen Forschungsüberblick vgl. ebd., S. 227–229).
Verschiedene Gründe einer vermeintlich persönlichen Opposition der beiden Dichter werden in der älteren Forschung angeführt: So herrscht etwa die Annahme einer Konkurrenz zwischen Lehrer und Schüler vor. In diesem Sinne schreibt Burdach die Geschichte von Walthers »Ueberwindung dieses Einflusses durch die sich zu völliger Freiheit entwickelnde dichterische Individualität« (S. 11, Sperrung i. O.). Von Kraus III, S. 25–27, dagegen widerspricht der Vorstellung von Reinmar als Walthers Lehrer und geht eher von einem Neben- und Gegeneinander der beiden Dichter aus. Birkhan sieht in ihren unterschiedlichen Minnekonzeptionen den Grund für ihren vermeintlichen Streit. Jackson, insb. S. 66–101, 147–194, wiederum hält soziale Differenzen für eine zentrale Ursache ihres Konfliktes.
Im Laufe der Forschungsgeschichte wird die Annahme einer persönlichen Fehde zwischen Reinmar und Walther zunehmend hinterfragt und die daraus abgeleiteten Athetesen werden kritisiert. So sind für Wachinger, S. 97f., 103–105, zwar gegenseitige Bezugnahmen der Dichter erkennbar, doch hält er fest: Die »gängige Annahme einer fortgesetzten literarischen ›Fehde‹ mit Schlag und Gegenschlag und fester Chronologie kann [...] aus den Texten nicht ausreichend gestützt werden« (S. 105). Auch Ranawake warnt vor der Annahme einer Fehde-Situation und vor den Konsequenzen einer konstruierten Chronologie. Schweikle 1986 sieht das »poetische Ballspiel« (S. 252) als einen »Teil des Sängeralltags« (ebd.) und weist auf mangelnde zeitgenössische Belege hin, die das Fehde-Argument stützen könnten, so werde etwa auch im ›Wartburgkrieg‹ keine Rivalität zwischen Reinmar und Walther gezeichnet (vgl. Schweikle 1969, insb. S. 29f.).
Kritisch gegenüber der Reduktion der beiden Dichter auf eine gemeinsame Fehde äußert sich auch Tervooren in ›Reimar und Walther‹ von 1989. Er verweist u. a. auf die Doppelüberlieferungen unter Reinmar und Walther: »Hätte die dichterische Produktion Reinmars und Walthers [...] ein so scharfes eigenes Profil, wie es in den Literaturgeschichten immer wieder durchklingt, hätten die Sammler solche Lieder kaum verwechseln können« (S. 100). Ferner warnt er vor den Konsequenzen, die sich aus einer Orientierung an der Fehde-Vorstellung für die Korpuskonstruktion ergeben haben: »Reinmar verliert bei diesem Vergleich quantitativ, weil aus seinem Werk alles weggeschnitten wird, was den Gegensatz stören könnte, qualitativ, weil er zum Vertreter des Alten gestempelt wird« (S. 93).
Eine Übersicht über die literarische Kommunikation zwischen Walther und Reinmar sowie eine Analyse zentraler Lieder gibt Bauschke. Im Folgenden soll nur exemplarisch auf zentrale Beispiele hingewiesen werden.
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Eine besondere Stellung nimmt das ›Schachlied‹ Walthers ein: »Ausgangspunkt einer Interpretation dieser sogenannten Walther-R.-Fehde sollte das Lied L 111,23 sein, mit dem Walther nach Auskunft der Handschrift C einen Ton R.s (MF 159,1) [C Reinm 35–39 et al.] übernimmt, offenbar um sich mit dem entsprechenden Lied sowie mit MF 170,1 [C Reinm 77–81 et al.] inhaltlich auseinanderzusetzen« (Hausmann, Sp. 141).
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Als Antwort Reinmars auf Walthers ›Schachlied‹ wird Reinmars ›Selbstverteidigung‹ genannt (C Reinm 242–244 et al.), so vermutet etwa Bauschke: »Reinmar nimmt Bezug auf den Dichterkollegen. Mit seinem Lied Herzeclîcher vröide wart mir nie sô nôt (MF 196,35ff.) reagiert er auf Walthers Schachlied-Parodie und verteidigt seine Position« (S. 227). Zweifel an einer Verbindung des Liedes mit der Auseinandersetzung zwischen Reinmar und Walther äußert dagegen Wachinger, S. 98. Schweikle 1986, S. 357, wiederum sieht in der Pointe des letzten Verses der unikal überlieferten Strophe M₁ Wa 3 ein Argument, die Strophe mit den Parodien Walthers auf verschiedene Lieder Reinmars zusammenzudenken und schlussfolgert: »Diese Beobachtungen geben der Überlieferung, welche die Strophe Walther zuweist, mehr Wahrscheinlichkeit« (S. 358).
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Walthers sumerlaten-Lied (C Wa 259–263, in B im Reinmar-Kontext überliefert) gilt als parodistische Auseinandersetzung mit Reinmar. Es wird als Reaktion auf C Reinm 31–34 et al. verstanden, wobei seine Stellung im Fehde-Kontext umstritten ist (vgl. z. B. Wachinger, S. 100f.). Besonders markant in Hinblick auf die Überlieferungssituation des sumerlaten-Liedes ist hier, dass sich drei Strophen als Schluss des ursprünglich namenlosen Abschnitts B *Reinm finden, welcher Teil der Reinmar-Überlieferung ist, allerdings am Ende einige Strophen führt, die keine Parallelüberlieferung unter Reinmars Namen haben (s. Korpuskommentar zu B). Schweikle 1986 vermutet: »Dieses dreistrophige Lied wurde eventuell im Rahmen der Reinmar-Walther-Fehde von Walther von der Vogelweide aufgegriffen und parodierend erweitert (Fassung ACE)« (S. 385).
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Das Preislied Reinmars C Reinm 56–61 et al., dessen Stellung im Fehde-Kontext ebenfalls umstritten ist (vgl. Wachinger, S. 97f.), gilt als Bezugspunkt von Walthers Preislied C Wa 200–205 et al. Doch ist das Lied, wie Bauschke betont, »weniger Polemik als tendenziell scherzhafte Reverenz« (S. 167).
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Weitere Bezüge zu anderen Liedern Walthers lassen sich ausmachen (vgl. beispielsweise Kellner, S. 396), unter anderem zu Walthers Nachruf auf Reinmar.
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Mit einem wörtlichen Zitat greift Walther in seinen ›Nachrufstrophen‹ (C Wa 34) auf C Reinm 58 et al. zurück. Die Totenklagestrophen, als Ausdruck der Geringschätzung von Reinmars Person verstanden, galten der Forschung als ein Argument für die Fehde zwischen den beiden Dichtern (vgl. auch Wa/Bei, S. 333).
Die Reinmar-Rugge-Vermischung
Ein weiterer Dichter ist im Kontext der Doppelzuschreibungen hervorzuheben: Heinrich von Rugge. Die sogenannte Reinmar-Rugge-Vermischung betrifft insbesondere einen bestimmten Teil der C-Sammlung: Sowohl das Reinmar-Korpus als auch jenes von Rugge sind in C Teil des Grundstocksegments B, allerdings befinden sich die beiden Sammlungen in unterschiedlichen Untersegmenten (vgl. Henkes-Zin, Anhang 1). Nun sind manche Strophen in C doppelt überliefert – einmal im Reinmar-Korpus, einmal unter Rugge. Hinzu kommen Parallelüberlieferungen in ABE unter variierenden Dichternamen, wobei keine der betroffenen Strophen in B unter Reinmar überliefert ist und von den in C doppelt überlieferten Strophen nur eine in E steht (E Reinm 70). Eine Orientierung gibt die folgende Tabelle (die erste Spalte gibt die Nummern der Töne nach MF/MT an):
Übersicht über die Reinmar-Rugge-Vermischung |
Rugge XI |
C Reinm 160–162 186 187 193 |
C Rugge 30 31 |
B Hausen 12–14 |
A Reinm 46–48 |
E Reinm 67–71 |
Rugge VII |
C Reinm 163–173 |
C Rugge 17 |
B Rugge 5 6 15–17 |
A Reinm 49–51 |
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Rugge I |
C Reinm 188–190 |
C Rugge 1–3 |
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Rugge I |
C Reinm 191 |
C Rugge 4 |
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Rugge II |
C Reinm 192 |
C Rugge 5 |
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Rugge VI |
C Reinm 194–197 |
C Rugge 13–16 |
B Rugge 1–4 |
A Leuth 12–14 |
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Rugge VIII |
C Reinm 198–201 |
C Rugge 18–21 |
B Rugge 7–10 |
A Rugge/29v/1 1–4 |
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Rugge IX |
C Reinm 202–205 |
C Rugge 22–25 |
B Rugge 11–14 |
A Rugge/29v/2 1–4 |
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Rugge I |
C Reinm 206 |
C Rugge 29 |
B Rugge 21 |
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Rugge X |
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C Rugge 26–28 |
B Rugge 18–20 |
A Reinm 56–58 |
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Eine Übersicht über die Debatte findet sich beispielsweise bei Ashcroft, S. 124f. MF/K ordnet die Strophen entweder Rugge zu oder führt sie als unechte Rugge-Strophen (wobei hierunter auch einzelne Strophen gezählt werden, die nur unter Reinmar überliefert sind); in MF/MT werden die Strophen unter Rugge geführt. Schmidt spricht ferner verschiedene, nur unter Reinmar überlieferte Strophen Rugge zu (vgl. etwa S. 55f., 60f., 68). Die Ursache der Reinmar-Rugge-Vermischung sieht er darin, »dass ihre persönlichen Beziehungen, das Verhältnis von Schüler zu Meister, eine Vermischung ihrer Gedichte beförderte« (S. 78). Schweikle 1989 hält den Überlieferungsbefund für ein mögliches Zeugnis einer Vortragspraxis, »in der nicht nur Nachsänger, sondern auch Dichter wie R. und Walther Strophen-Adoptionen in ihrem Repertoire führten, wobei solche in die eigene schriftliche Tradierungsreihe gelangen konnten« (Sp. 1182). Daneben könnte die Überlieferungsvermischung ein mögliches Zeugnis für die »zeitweilige[] Gemeinschaft der beiden Sänger« (Schweikle 1986, S. 23) sein (vgl. ferner Schweikle 1965, S. 267–345).
Weniger biographisch argumentiert die jüngere Forschung: Hausmann, S. 63f., 339–342, vermutet die zentrale Ursache in einer Unsicherheit des C-Schreibers bzw. -Kompilators, die wiederum initiiert worden sei durch eine abweichende Zuschreibung zweier Lieder (Rugge VII = B Rugge 15–17 et al. sowie Rugge X = B Rugge 18–20 et al.) in zwei verschiedenen Vorlagen des Schreibers: In *BC waren sie Rugge zugeschrieben, in *AC standen sie in einem angelagerten Abschnitt (Reihe y2) des Reinmar-Korpus (S. 62, 339). Henkes-Zin hebt mit Blick auf die in C doppelt überlieferten Strophen die Formabweichungen hervor, wobei die Strophen Reinmars tendenziell stärker geglättet seien: Wusste der Schreiber, als er die entsprechenden Strophen im Rugge-Korpus »eintrug, davon, dass sie auch im Reinmar-Korpus ihren Platz finden würden und wollte er sie deshalb von den Reinmar-Strophen unterscheiden?« (S. 145). Rudolph erwägt weniger ein zeitliches Nacheinander, sieht nicht primär die einen Strophen als Bearbeitungen anderer, sondern überlegt, ob »die variierenden Zuschreibungen bereits beim Verfassen der Handschrift [C, S. H.] selbst als gleichwertig und somit im Sinne von Optionen aufgefasst worden sind« (S. 22).
Werk
Reinmar gilt als Dichter, dessen Werke von einem hohen Grad an Abstraktion gekennzeichnet sind. So formuliert etwa Schweikle 1989: »Insgesamt intellektualisiert R. den Minnesang und unterscheidet sich mit seiner Reflexionspoesie, Gedankenlyrik prägnant etwa von dem zeitgenössischen Sensualisten Morungen« (Sp. 1188). In der Tat wirken viele seiner Texte so, als würden sie einen gedanklichen Prozess darlegen, sind geprägt von einem Miteinander von Fragen und Antworten, von Aussagen und Revocationes. Doch würde es zu kurz greifen, Reinmars Œuvre darauf reduzieren zu wollen. Seine Texte zeigen ein breites Spektrum von Themen und Sprechweisen sowie eine große Rollenvielfalt, sowohl der männlichen als auch der weiblichen Rollen: Neben Klagen im Sinne der Hohen Minne finden sich Frauenlieder (z. B. C Reinm 113–117 et al. [mit Boteneinschüben], C Reinm 118–121 et al., C Reinm 155–159), Wechsel (z. B. C Reinm 4–7 et al., C Reinm 8–10 et al., C Reinm 87–91 et al.; das ›Anti-Tagelied‹ C Reinm 20–24 et al. als erweiterter Wechsel ist hervorzuheben), eine Totenklage (C Reinm 68 69 et al.), Streitgedichtsstrophen (C Reinm 36 et al., C Reinm 59 et al.), Kreuzlieder (C Reinm 122–124, C Reinm 125–128), Sangspruchhaftes (z. B. C Reinm 224–226), aber auch die Ablehnung der Ratgeberrolle (z. B. C Reinm 82 et al.) sowie Schwankhaftes bzw. Pastourellenhaft-Obszönes (z. B. C Reinm 229–232, E Reinm 160–164 et al.).
Formal überwiegen heterometrische Stollenstrophen mit alternierendem Versbau und meist männlichen Kadenzen. Bemerkenswert ist der Umstand, dass die frühesten überlieferungsgeschichtlich für uns greifbaren Sammlungen nach der Strophenform gruppiert waren: Die Strophenreihe x1 (entsprechend C Reinm 1–69) zeigt umfangreichere Abgesänge mit gegliederten Strukturen wie etwa cc/dxd, die Strophenreihe x2 (entsprechend C Reinm 70–121) dagegen schlichtere Kanzonen-Bauformen, die den Abgesang meist nur mit einer Waisenterzine oder einem Reimpaar bilden (vgl. Hausmann, S. 60). Die Lieder stehen in der Tradition des rheinischen Minnesangs, Kontrafakturen zu romanischen Liedern lassen sich nur vereinzelt erwägen (vgl. Aarburg). Inwieweit inhaltliche, speziell motivische Anlehnungen an den frühen Minnesang oder an die romanische Lyrik vorliegen, darin ist sich die Forschung nicht einig (vgl. für eine Übersicht beispielsweise Tervooren, S. 238f.). Das Falken-Bild in C Reinm 25 et al. wird z. B. teilweise als Übernahme aus dem frühen Minnesang gewertet, ähnlich der »frivole Witz der Kussraubstrophe« (Hausmann, Sp. 139), wobei das Kussraub-Motiv auch eine Entlehnung aus der Troubadour-Lyrik sein könnte (vgl. Buschinger, S. 13, Touber, S. 515f.).
Auch die Frauenlieder mit ihrer manchmal »liebesbereite[n] Frau« (Hausmann, Sp. 139) werden teilweise als angelehnt an die frühe Lyrik angesehen, wobei die Frauenrollen bei Reinmar ganz unterschiedlich gestaltet sind. Jackson sieht in seiner Studie von 1981 (›Reinmar’s Women‹) die Frauenlieder und -strophen einerseits in Donauländischer Tradition (vgl. insb. S. 314, 328–330), vermutet in einem Aufsatz von 2005 (Jackson: ›Reinmar der Alte and the Woman as Courtly Victim‹) andererseits Parallelen zu Liedern der Trobairitz. Kasten wiederum denkt die Frauenlieder eng zusammen. So bemerkt sie etwa bezogen auf C Reinm 236–241: »Dieses Lied kann als ein weiteres Stadium der in anderen Liedern Reinmars (XXVIII–XXXI) [C Reinm 113–117 et al., C Reinm 118–121 et al., C Reinm 155–159, C Reinm 214–218] dargestellten inneren Entwicklung der Frau gedeutet werden, wobei hier die Frau von ihrer Rolle als ›Minnedame‹ endgültig Abschied genommen hat« (S. 256). Boll wiederum spricht sich gegen die These aus, alle Frauenlieder bildeten »eine[] Art ›thematischen Zyklus‹« (S. 430): »Ein einheitliches Bild, das womöglich noch eine innere psychologische Entwicklung der Minnedame nachzeichnet, war wohl niemals intendiert. Dafür erweisen sich [...] die Entwürfe der weiblichen Sprecherrolle als zu disparat« (S. 460).
Auch die Männer- und Frauenstrophen Reinmars werden in der Forschung auf Werk-Ebene miteinander verbunden. So formuliert Hausmann, S. 249, die These, die Frau in den Frauenliedern als Konkretisierung der in den Männerliedern besungenen Dame zu verstehen und konstruiert dadurch eine Art Wechsel auf der Ebene des Œuvres. Obermaier, S. 67–72, arbeitet die Komplementarität einiger Frauen- und Sängerlieder heraus (bezogen auf das Bild der Frau, die Einschätzung der Wirkung des Sanges sowie das Verhältnis von Sang und Minne). Hübner betont, dass die Frauenlieder aus seiner Perspektive nicht »bloße Ergänzungen der männlichen Kanzonentopik in der Frauenrede [sind], sondern [sie] integrieren Frauenrede und Kanzonentopik zum selbständigen Modell einer ›weiblichen Kanzone‹« (S. 436).
Ferner hebt die Forschung oft die leidvolle Stimmung der Lieder hervor. Schweikle 1989 etwa spricht von einer »Leidenspathetik« (Sp. 1188), bei der die besungene Dame Parallelen zur allegorischen Frau Welt erhalten könne, wodurch Minneklage zur Weltklage werde (Sp. 1186). Doch werden bei Reinmar fröude und trûren aufs Engste miteinander verbunden und seine Lieder spielen immer wieder mit der Minneparadoxie der Freude durch Leid bzw. der Freude am Leid (z. B. C Reinm 82–86 et al., C Reinm 62–67 et al.). »Er ästhetisiert seinen Schmerz, stilisiert ihn um [...] in die Tugend des ›schönen‹ [...] Trauerns« (Schweikle 1986, S. 34): daz nieman sin leit so schone kan getragen (C Reinm 60, V. 5).
Ein weiteres zentrales Thema ist die Frage nach der Authentizität der Rede, nach der Balance zwischen gesellschaftlicher Angemessenheit und emotionaler Intensität, zwischen Reden und Schweigen (z. B. C Reinm 26–30 et al., C Reinm 31–34 et al., C Reinm 40–44 et al.). Eine besondere Rolle nimmt die einen fröhlichen Gesang fordernde Gesellschaft ein (z. B. C Reinm 49–55 et al.): »Eine Gesellschaft, die nicht mehr imstande ist, das trûren des Sanges in eine höherwertige fröide umzusetzen, sondern immer schon auch inhaltlich freudigen Sang hören will, stellt demnach eine Bedrohung für das Singen dar, weil Singen damit der Erfüllung unterworfen werden muß« (Hausmann, S. 205).
Es zeigt sich somit ein inhaltlich wie formal vielfältiges Werk, »das den Autor als experimentierfreudigen Künstler zeigt, der die Grenzen seiner minnetheoretischen Vorgaben durch ständiges Variieren erprobt und schließlich sprengt. Ein solch reflektierter und reflektierender Umgang mit der Minnesang-Tradition wird somit geradezu zum Markenzeichen Reinmars« (Behr, S. 356f.). Ihn zeichnet nicht nur wortreiches trûren aus, sondern auch Lieder voller Freude (wie E Reinm 156–159) und starker Bildlichkeit (wie E Reinm 160–164 et al.) sind unter seinem Namen überliefert.
Sandra Hofert