Autor
Der Dichter Heinrich von Rugge ist wahrscheinlich mit dem urkundlich bezeugten Heinricus miles de Rugge zu identifizieren, der »in einer Urkunde anläßlich einer zwischen 1175 und 1178 datierten Güterübertragung des Abtes Eberhard von Blaubeuren an das Kloster Salem und dessen Abt Christian als Zeuge belegt ist« (Meves, S. 660). Vermutlich gehört er einer Ministerialenfamile der Pfalzgrafen von Tübingen zu, welche sich nach der nahe bei Blaubeuren liegenden Burg Ruck benannt hat (vgl. ebd.). Kritisch zur Identifizierung des urkundlich belegten Rugge mit dem Dichter äußert sich Bumke, S. 61, 112f. Darüber hinaus wird Heinrich von Rugge in zeitgenössischer Lyrik und Epik des 13. Jahrhunderts genannt, so bei Reinmar von Brennenberg in einer Totenklage auf verstorbene Dichter, in einem Lied des Marners, in einer Dichterliste des von Gliers sowie in der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin (vgl. Schweikle, S. 3f., 12–16, 33–38).
Überlieferung
Korpusüberlieferung
Die Lieder Rugges sind in ABC überliefert: Unter Her Hainrich von Ruche führt B 23 Strophen, 34 Strophen stehen unter Her Heinrich von Rugge in C (Grundstocksegment B, vgl. Henkes-Zin, S. 34). A führt vier Strophen unter Heinrich der Riche (Rugge/29v/1), direkt im Anschluss weitere vier unter Heinrich von Rucche (Rugge/29v/2). Der Leich ist (abseits der Lyriküberlieferung) unikal in N1 überliefert (als Nachtrag aus dem späten 12. Jh.; Namensnennung im Text).
Die Reinmar-Rugge-Vermischung
(siehe auch den Autorkommentar zu Reinmar)
Insbesondere in der älteren Forschung steht die Frage im Mittelpunkt, welche Töne Heinrich von Rugge zuzuschreiben sind und welche nicht (Forschungsüberblick z. B. bei Rudolph, S. 8–22). Ausgangspunkt der Untersuchungen ist meist eine Besonderheit der Überlieferungssituation: die sogenannte ›Reinmar-Rugge-Vermischung‹. Es gibt Strophen, die in C sowohl im Reinmar-Korpus als auch unter Rugge überliefert sind. Parallelüberlieferungen in ABE führen die Strophen unter variierenden Dichternamen:
Übersicht über die Reinmar-Rugge-Vermischung
C Reinm 160–162 186 187 193 |
C Rugge 30 31 |
B Hausen 12–14 |
A Reinm 46–48 |
E Reinm 67–71 |
C Reinm 163–173 |
C Rugge 17 |
B Rugge 5 6 15–17 |
A Reinm 49–51 |
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C Reinm 188–190 |
C Rugge 1–3 |
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C Reinm 191 |
C Rugge 4 |
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C Reinm 192 |
C Rugge 5 |
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C Reinm 194–197 |
C Rugge 13–16 |
B Rugge 1–4 |
A Leuth 12–14 |
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C Reinm 198–201 |
C Rugge 18–21 |
B Rugge 7–10 |
A Rugge/29v/1 1–4 |
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C Reinm 202–205 |
C Rugge 22–25 |
B Rugge 11–14 |
A Rugge/29v/2 1–4 |
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C Reinm 206 |
C Rugge 29 |
B Rugge 21 |
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C Rugge 26–28 |
B Rugge 18–20 |
A Reinm 56–58 |
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Ohne Parallelüberlieferungen unter anderem Dichternamen stehen nur C Rugge 6–8, C Rugge 9–10, C Rugge 11–12 sowie C Rugge 32–34 et al. MF/MT führen alle unter Reinmar und Rugge überlieferten Strophen unter Rugge (in insgesamt zwölf Tönen mit 48 Strophen, wobei auch nur unter Reinmar überlieferte Strophen darunter sind, wie in C Reinm 160–162 186f. et al. und C Reinm 163–173 et al.). Brinkmann dagegen reduziert das Rugge-Korpus auf sieben Einzelstrophen (C Rugge 5 et al., C Rugge 9, C Rugge 16 et al., C Rugge 22 et al., C Rugge 23 et al., C Rugge 24 et al., C Rugge 25 et al.) und zwei dreistrophige Lieder (C Rugge 6–8, C Rugge 26–28 et al.).
Die Miniaturen
Die Miniatur in C zeigt einen Reiter hoch zu Ross, eine Darstellung, die an mittelalterliche Reitersiegel erinnert. Doch anders als etwa Wachsmut von Künzingen, Hartmann von Aue oder Ulrich von Liechtenstein ist die hier dargestellte Figur nur teilweise gerüstet. Sie trägt einen Schild, dessen Wappen (mit unsicherer Deutung: »in Gold einen blauen Pfahl mit drei weißen Wolken oder Glocken« [Walther, S. 88]?) vier Mal auf der Pferdedecke wiederholt wird (eine historische Deutung des Wappens versucht Eberl, S. 44–46; dazu kritisch Meves, S. 661). In der rechten Hand hält der Reiter eine Lanze, an deren oberem Ende ein Schriftband befestigt ist: Ritterliche Fahne und Dichterattribut werden überblendet und kennzeichnen den Reiter als Minneritter, umgeben von ornamentalen Ranken (zur Miniatur vgl. auch Walther, S. 88f.).
Ein ähnliches Bild zeigt die Miniatur in B, wobei die Farbgebung variiert, das Pferd keine Decke trägt und der Reiter nicht umgeben ist von ornamentalen Glockenblumen; vielmehr bewegt er sich auf einem angedeuteten, hügeligen Boden von rechts nach links.
Werk
Der Leich (N1 *Rugge 1)
»Fernab der wesentlich späteren Minnesang-Überlieferung steht der Kreuzleich Heinrichs von Rugge als Nachtrag in der bischöflichen Dekretsammlung Burkhards von Worms (clm 4570) Ende des 12. Jhs. und ist damit früheste Aufzeichnung höfischer Lyrik überhaupt« (Apfelböck, S. 135). Der Text bezeichnet sich selbst durch eine Beischrift als leich von deme heiligen grabe; sein Dichter, der tumbe man von Ruge, wird im letzten Doppelversikel genannt. Einen Anhaltspunkt für die Datierung gibt die Anspielung auf den Tod von Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem dritten Kreuzzug 1190. Der Leich ist geprägt von »Kreuzzugspropaganda« (Zapf, Sp. 117); ob dies in Verbindung steht mit einer eigenen Teilnahme Heinrichs von Rugge am Kreuzzug, wie Wallner, Sp. 329, vermutet, ist umstritten (vgl. Meves, S. 660). So wie inhaltlich das zentrale Thema, der Aufruf zum Kreuzzug, mit immer neuen Argumenten variiert wird, besteht auch die Form aus Wiederholungsstrukturen: Insgesamt setzt sich der Leich aus einer Sequenz von 14 Abschnitten zusammen, die überwiegend aus Doppelversikeln gebildet werden. Formal wie inhaltlich hebt sich der »Gespielinnendialog« (Zapf, Sp. 117) vom Textkontext ab, in dem das Zu-Hause-Bleiben des Mannes der Frauen wegen kritisiert wird.
Die Lieder
Formal dominiert die Kanzonenstrophe (Periodenstrophen ggf. in C Rugge 32–34 et al.). Neben mehrstrophigen Kanzonen sind auch zahlreiche Einzelstrophen sowie Strophenreihen mit eher loser Strophenbindung zu finden (s. inbs. C Reinm 163–173 et al.). Eine Art variierender Refrain liegt in C Rugge 6–8 vor. Ferner lassen sich isometrisch vierhebige Strophen sowie heterometrische Strophen unterscheiden, wobei letztere oft von Vierhebern dominiert werden. Der Rhythmus ist überwiegend alternierend (Daktylen etwa in C Rugge 6–8 sowie C Rugge 26–28 et al.); die Reime sind i. d. R. rein, wobei verschiedene Binnenreime zu finden sind.
Inhaltlich setzt sich Heinrichs Liedoeuvre zusammen aus spruchartigen Strophen (etwa C Reinm 166 und C Reinm 170 et al.), Minneliedern (z. B. C Rugge 5 et al. oder C Rugge 6–8) und Wechseln (wie C Rugge 18–21 et al. oder C Rugge 32–34), wobei Minnethematik und Gesellschaftskritik ineinander wirken können (so in C Rugge 11f.). Die inszenierte Minnesituation ist oft von Hoffnung auf Erfüllung und Gegenseitigkeit geprägt. Hervorzuheben sind zudem die verschiedenen Naturbilder (z. B. in C Rugge 1–3 et al., C Rugge 18–21 et al. oder C Rugge 22–25 et al.). Ein wortspielerischer Minnepreis findet sich in C Rugge 4 et al. Das Zusammenwirken der ›Bausteine‹ des Rugge-Korpus untersucht Rudolph: Ausgehend von dem »Diktum vom Minnesang als ›Variationskunst‹« (S. 33), nimmt er am Beispiel Rugges die »Strategien, Verfahren und Funktionen der als gattungskonstitutiv zu verstehenden Praxis des Variierens« (ebd.) in den Blick und vertritt die These: »Was die Forschung zum Verdikt verleitet hat, Rugge mangele es an Originalität, lässt sich [...] als exemplarische Partizipation an der Variationskunst des Minnesangs beschreiben« (S. 34).
Sprachlich fällt der seltene Gebrauch des Begriffs frouwe auf (nur in vier unter Rugge überlieferten Strophen bzw. in zwei Tönen ist er zu finden: B Rugge 22 sowie C Rugge 22 et al.); die Geliebte selbst wird nie direkt als frouwe angesprochen. Weitaus häufiger wählt Rugge die Bezeichnung wîp (30 Strophen). Eine semantische Differenz der beiden Benennungen lässt sich nicht validieren. Ob allerdings mit beiden »›Wesen weiblichen Geschlechts‹ im allgemeinen« (Salem, S. 100, vgl. auch S. 104) gemeint sind, ist aufgrund des dominierenden höfischen Kontexts fragwürdig, wenngleich die Intensität der sozialen Begriffskonnotationen differieren kann (vgl. dazu ferner Rudolph, S. 186). Salem vermutet darüber hinaus formale Gründe: »Rugge scheint nämlich eine gewisse Neigung für helle Vokale zu empfinden, was bei seinen Liedern bei der Wortwahl seinen Niederschlag gefunden haben könnte« (S. 109).
Sandra Hofert