Überlieferung: Das sogenannte Anti-Tagelied Reinmars ist in vier Handschriften in jeweils abweichender Strophenkonstellation überliefert. In B ist das Lied nur dreistrophig. C hat mit B die Abfolge der ersten drei Strophen gemein, in C folgen jedoch zwei weitere Strophen. A teilt die Strophenfolge von C; hier fehlt aber die in C zweite Strophe. E schließlich, die jüngste und auch im Wortlaut am stärksten abweichende Überlieferung, wählt eine gänzlich andere Anordnung der Strophen: die in ABC erste Strophe, die im Eingangsvers das Nahen des Tages benennt und damit ein Tagelied-Signal setzt, rückt in E an den Schluss des Liedes, und die Frauenstrophe, die in A und C das Lied beschließt, ist in E in eine Mannesstrophe umformuliert, in den Kornreim (s. u.) eingegliedert und an die zweite Position verschoben.
Form: Der Strophenbau ist unterschiedlich gedeutet worden. Während MF eine elfzeilige Stollenstrophe ansetzt (mit Zerlegung von V. 6 und 7 in je zwei Kurzverse), sprechen die Reimpunkte in B, C und E für die hier gewählte neunversige Struktur (so auch Schweikle, Kasten und Klein):
(.)4a .5b / (.)4a .5b // .5b .3-+.3b (.)3-+.3c .4x (.)6c
Abweichungen: ABC I,5 hat eine Hebung mehr oder zweisilbigen Auftakt; dasselbe gilt für die Abverse von ABC I,7; ABC II,7 und C V,7 = A IV,7. Zweisilbiger Auftakt bzw. Enklise dürfte auch in ABC I,9 vorliegen. Unterfüllt sind C IV,7 und C V,9 = A IV,9. Insbesondere im Abgesang divergieren mithin die Verslängen zwischen den Strophen und den Fassungen, was sich auch im uneinheitlichen Ansatz des Schemas in der Forschung niederschlägt: Klein, S. 363: 6 6 7 4 6 (mit Abweichung *AC III u. IV); Schweikle, S. 322: 5 7 6 3 6; Kasten, S. 818: 5 7 7 4 6.
Die V. 6 und 7 dürften als zäsuriert und mit einer klingenden Binnenkadenz aufzufassen sein (also 4k + 3), weil andernfalls an dieser Stelle des Verses in allen Strophen eine Störung des alternierenden Versgangs aufträte. Die Str. I–III (nach der Zählung von BC) sind durch einen Kornreim im vorletzten Vers verbunden (zit : strit : zit); in der Frauenstrophe V bildet die Waisenterzine statt dessen einen Dreireim. Str. IV (in C) fällt durch ihr leicht abweichendes Reimschema (abab ccdxd) auf, weshalb ihre Zugehörigkeit zum Lied angezweifelt worden ist. von Kraus (MF/KA, S. 484) hält den Reim bin : sin : vil : wil dagegen für einen schemagerechten, jedoch unreinen Reim.
Textgeschichte: Mit seiner vierfachen Überlieferung gehört das Lied zum Nukleus des Reinmar-Œuvres (Hausmann: x1). Nach Hausmann (S. 78f.) leiten sich B I–III und C I–III von einer als dreistrophig anzunehmenden *BC-Fassung ab, die Str. IV und V hat C dagegen aus einer anderen Quelle, *AC, ergänzt, in der das Lied länger war. Die Sammlung *AE, die *AC im Bereich von x1 vorauslag und die oft gegenüber *BC zusätzliche Schlussstrophen überliefert (S. 71f.), hatte das Lied fünfstrophig. Undeutlich bleibt Hausmanns Auskunft in der Frage, wie sich die dreistrophige und die fünfstrophige Version zueinander verhalten. Einerseits belegt er, dass die Liedkürzung um ein Schlussstrophenpaar im Überlieferungsgang *BC gegenüber *AEBC kein Ausnahmefall ist (S. 71f.), andererseits spricht er von der »Ergänzung[]« eines »Liedkern[s]« (Str. I–III) um die Str. IV und V (S. 119). Als Argument für die nachträgliche Anreihung der Str. IV und V sind deren formale Abweichungen seit je ins Feld geführt worden.
Inhalt: Minneklage als »Variation des höfischen Minnelieds im Spiegel des Tagelieds« (Klein, S. 363). Die möglicherweise ältere dreistrophige Liedfassung, wie sie in B vorliegt, wird von Verweisen auf den tac und das tagen gerahmt (I,1; III,9). Dennoch liegt gerade kein Tagelied vor, denn es spricht kein unbeteiligter Erzähler, sondern der von seinen Liebesnöten gepeinigte Sänger, der die Tageliedmotivik kontrastiv (oder gar ironisch?) aufgreift und es in der zweiten Strophe als geradezu beneidenswert darstellt, wenn ein Paar sich am Morgen trennen und in gegenseitiger Sehnsucht zurücklassen (II,2.4) muss, weil er selbst im Gegensatz dazu nur dauernde Gleichgültigkeit von der Dame erfährt. Die dritte Strophe enthält neben einem Bekenntnis zur Unverbrüchlichkeit der Liebe trotz fehlendem Entgegenkommen (III,5f.) eine gewiss auch poetologisch gemeinte Kontrastierung der Zeitmodelle von dauernder (unerfüllter) Minne (also vergie mich du̍ zit, III,8) und kurzfristiger Erfüllung (es taget mir laider selten nach dem willen min, III,9).
Die zwei formal leicht abweichenden Strophen C IV = A III und C V = A IV = E IV haben keinen Anteil mehr an der Tageliedthematik und der Diskussion konkurrierender Minne-Temporalitäten. Die vorletzte Strophe beklagt die Missachtung des Sängers durch die Welt (diese ignoriere sein Leid und seine – darin begriffene? – Identität) und durch die Geliebte (sie ignoriere seine aufrichtige Hinwendung zu ihr). Die letzte Strophe ist aus der Warte einer liebenden Frau gesprochen, die sich nach einer Nachricht des fernen Geliebten sehnt; diese Strophe erweitert das Lied zum Wechsel.
In E ist diese Frauenstrophe nicht nur an die zweite Position verschoben, sondern durch Ersatz der Pronomina in eine Aussage des Sängers umgewandelt. Das Liebesbekenntnis der Frau wurde offenbar als inkompatibel zu der von Enttäuschung geprägten Perspektive der anderen Strophen empfunden.
Sonja Glauch