Überlieferung: Das Tagelied ist, dreistrophig, in A unter dem Namen Niunes und in C unter dem Ottos von Botenlauben überliefert; die dritte Strophe steht außerdem in den Carmina Burana am Ende eines lateinischen Kreuzliedes (CB 48; vgl. separater Kommentar zu M Namenl/13v 1–6). Die drei Fassungen differieren stark und lassen vermuten, dass im Überlieferungszweig, der zu C führte, in den Text und insbesondere die Reime eingegriffen wurde (vgl. C III, 2. 4. 5. 9. 10); auch der Refrain fehlt in C. Sonderbar erscheint dabei, dass bei der Rekombination der Abgesänge der Str. I und III die Hs. M mit C gegen A steht. Das erlaubt die Folgerung, dass auch der Überlieferungszweig, der zu A führt, ungewöhnlich massiv überarbeitet wurde, zumal die Abgesänge nicht einfach vertauscht sind, sondern sowohl A wie C in jeweils einer Strophe einen sonst nicht bezeugten Abgesang bieten (C I, A III).
Wie alt die überlieferte Strophenfolge ist, ist fraglich. M tendiert dazu, die ersten Strophen deutscher Lieder als Anhangsstrophen zu benutzen (vgl. Wachinger, S. 111; Müller, S. 102). Die von M hier gewählte Strophe mit der Rede der Frau (Hoͤrstu, friunt) steht in AC an dritter Stelle, obwohl sie im ersten Vers ein deutliches Tageliedsignal gibt und nach der narrativen Logik am besten zwischen Wächterrede und Rede des Ritters passt – so auch die Strophenfolge, die seit Bartsch 1864 gemeinhin hergestellt wird (vgl. Weigand, S. 71f.). Gegen die Umstellung argumentiert nun Sager.
Zur Frage der Präzedenz des deutschen oder des lateinischen Liedes vgl. den Kommentar zu M Namenl/13v 1–6; die Forschung ist sich weitgehend einig, dass eine Kontrafaktur vorliegt und dass Ottos Tagelied ihr Ausgangspunkt gewesen sein muss.
Form: Stollenstrophe (.)5-a (.)3b .5c / 5-a (.)3b .5c // (.)4d (.)4d .3e .5e //R 2-x; die Neumennotation des lat. Liedes lässt erkennen, dass eine Rundkanzone vorliegt (Beatie, S. 473). Der kurze, wohl zweitaktige Refrain ist nicht angereimt und rhythmisch uneindeutig. Refrainlieder lassen sich im Œuvre Ottos sonst nicht nachweisen. Hier ist es jedoch offensichtlich der Refrain, der die umdeutende Übernahme (Gottes Erhebung [exurgat deus] – morgendliches Aufstehen [stant uf riter]) zwischen deutschem und lateinischem Text ausgelöst hat. Zugleich folgt der Refrain der v. a. okzitanischen Usance, Tagelieder mit Kehrreim zu versehen.
Inhalt: Tagelied ohne Erzählerrede, bestehend aus Rede des Wächters, der Dame und des Ritters, die in den beiden Fassungen (CM gegen A) unterschiedlich innerhalb der Strophen kombiniert werden. Während in A das Strophenende vor dem als Weckruf an den Mann adressierten Refrain immer der Frau in den Mund gelegt ist und keine Strophe eine durchgehende Sprechinstanz zeigt, sind in C weniger Redewechsel zu beobachten (C I = Wächter; C II = Ritter, mit Ausnahme des letzten Verses; C III = Dame).
Der Wächtersang der ersten Strophe, der von der Dame in III ›gehört‹ und als Wecksignal verstanden wird, ist als Reflexion über Pflichten und Normen gestaltet und nicht als Apostrophe des Paares. In der zweiten Strophe spricht der Ritter die Geliebte an und benennt ihre minne als Grund für sein betagen, zu dem er sich auch künftig bekennt. Mit dem außergewöhnlichen Bild der Liebe der Frau als Zange (II,7), die ihn fest gegriffen habe (C) oder greifen möge (A), unterstreicht der Ritter seine Treue selbst unter Lebensgefahr, aber auch den Minnezwang. Indem auch der Wächter davon spricht, dass diese heimliche Liebe schon lange währe (die dicke bi einander lagen ê I,3), unterstreicht das Lied mehrfach die Dauerhaftigkeit der illegitimen Beziehung.
Im Gegensatz zum Ritter, der den Wächterruf in seinem Part nicht zur Kenntnis nimmt, lässt die dritte Strophe die Frau die Notwendigkeit des Abschieds aussprechen und sich in Klage ergehen.
Intertextuelles: Wolf, S. 80–86, weist auf zahlreiche textuelle Übereinstimmungen hin, die dieses Lied mit C Botenl 3 4 5 und dem Tagelied des Markgrafen von Hohenburg (C Hoh 10 11 12) in einen Zusammenhang gegenseitiger Variation stellen. So wirke der Refrain stant uf riter wie ein »Komplementärrefrain zu wecke in, frouwe / slâf, geselle des Markgrafen« (S. 81), durch fehlenden Auftakt in beiden Liedern jeweils hervorgehoben. In der Niune-Sammlung in A stehen unser Lied und das Lied des Markgrafen denn auch in direkter Folge als A Niune 30 31 32 und A Niune 33 34 35.
Sonja Glauch
A Niune 30 (29) = CB 48a; KLD 41 XIII 1Zitieren | |||
Kleine Heidelberger Liederhandschrift (Heidelberg, UB, cpg 357), fol. 23r | |||
I | |||
A Niune 31 (30) = KLD 41 XIII 3Zitieren | |||
Kleine Heidelberger Liederhandschrift (Heidelberg, UB, cpg 357), fol. 23v | |||
II | |||
A Niune 32 (31) = KLD 41 XIII 2Zitieren | |||
Kleine Heidelberger Liederhandschrift (Heidelberg, UB, cpg 357), fol. 23v | |||
III | |||