Autor und Überlieferung
Unter dem Namen Niune führt die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A) einen Leich und 24 Lieder (sechzig Liedstrophen). Das Korpus, das die Manessische Liederhandschrift (C) unter Her Nu̍nu̍ tradiert, ist mit dem Leich und den ersten beiden jener Lieder (sieben Liedstrophen) deutlich kleiner. In A folgt auf das Niune-Korpus jenes zu ›Gedrut‹, in C jenes zu ›Geltar‹ (dessen Lieder in A Teil des Gedrut-Korpus sind). Eine historische Person namens Niune ist urkundlich nicht bezeugt. Da die unter Niune überlieferten Texte erstens im Hinblick auf Liedtypen, Sprechrollen und Darstellungsarten sehr heterogen und zweitens in anderen Handschriften mit – produktionsästhetisch – größerer Stimmigkeit anderen Dichtern zugeordnet sind, geht die Forschung davon aus, dass mit ›Niune‹ (ähnlich wie mit ›Gedrut‹) ein Sammelkorpus vorliegt, das eventuell das Vortragskorpus eines Sängers sein könnte.
Beide Handschriften A und C konstruieren jedenfalls mit ›Niune‹ (wie wohl auch mit ›Gedrut‹ und eventuell ›Geltar‹) Autoren, um das Ordnungsprinzip der Handschriften nicht zu durchbrechen (vgl. mit Bezug auf A Schuchert, S. 34). Der Name ›Niune‹ könnte, ähnlich wie ›Geltar‹ – der geltære, Schuldner – oder ›Gedrut‹ – mit gedreut, Nebenform zu getriute, eine Assoziation zu ›Liebkosung‹ (vgl. ebd., S. 34f.)? –, ein sprechender Name sein, der eventuell auf ein Schauspiel oder eine Münze anspielt (vgl. ebd., S. 35).
Die Niune-Miniatur in der Manessischen Liederhandschrift zeigt ein Liebespaar in einem Boot, umrahmt von einer männlichen und einer weiblichen Begleitung, die die Ruder führen. Wappen und Helmzier schmückt eine goldene Lilie, die im Wappen auf blauem Grund steht, während sie auf dem Helm ein Rad aus Pfauenfedern krönt (vgl. Walther, S. 222).
Werk
Der AC-Bestand zu Niune besteht aus einem Minneleich (A Niune 1 et al.), den C auch unter Rudolf von Rotenburg tradiert, aus einem pastourellenhaften Werbedialog (A Niune 2f. et al.), den C ein zweites Mal unter dem Kol von Niunzen führt, und aus einer Minneklage (A Niune 4–8 et al.), die C auch Rudolf von Rotenburg zuordnet.
Die Heterogenität, die sich hier in Bezug auf Texttypen und Autorzuschreibungen andeutet, setzt sich in den Zusatzstrophen unter A Niune fort. Mit Parallelüberlieferungen zu Leuthold von Seven (A Niune 9f. et al.) und Wachsmut von Künzingen (A Niune 11–14 et al.) sowie einer unikal in A unter Niune überlieferten Strophe (A Niune 15) folgen zunächst drei Minneklagen aufeinander.
Nach einem Dialoglied (A Niune 16–20 et al.), das sich in C in das Korpus Ulrichs von Singenberg fügt, schließen erneut einige unikal in A unter Niune überlieferte Lieder an, nämlich die Strophe A Niune 21, in der ein vermutlich weibliches Ich seine Freude gegen seine sorge abmisst, eine Minneklage A Niune 22f. und eine Frauenstrophe mit Tageliedelementen A Niune 24. Über Parallelüberlieferungen ist das Preislied A Niune 25–29 et al. mit Ulrich von Liechtenstein und Heinrich von Veldeke verbunden, das Tagelied A Niune 30–32 et al. mit Otto von Botenlauben und einer namenlosen Überlieferung im Codex Buranus, das Wächtertagelied A Niune 33–35 et al. mit dem Markgrafen von Hohenburg.
Es folgt wieder ein kurzer Block an Minneklagen: Die Klagerede an die Minne A Niune 36f. et al. ist in C Alram von Gresten zugeschrieben, genau wie die Frauenstrophe in Langversen A Niune 39 et al. Dazwischen fügt sich mit A Niune 38 et al. die Strophe einer Minneklage, die BC dreistrophig unter Rudolf von Fenis-Neuenburg tradiert.
Mit Walther von der Vogelweide verbunden sind A Niune 40–42 et al. und die Strophe A Niune 43 et al., in der ein Ich die ungeschminkte Schönheit von Frauen lobt. A Niune 40–42 et al. ist ein Textbündel: A Niune führt im Vergleich zum Walther-Kontext eine eigenständige Version. Unter Walther stehen drei Strophen inhaltlich je für sich, zwei davon sind sangspruchartig. Die Niune-Version kann man als dreistrophiges Lied auffassen, dessen Str. II und III Sommer und Winter als Zeit der Liebe gegeneinander abwägen, während die erste, unikal unter Niune überlieferte Strophe ein Walther-Zitat ist: Sie nimmt eng Bezug auf C Walther 145 et al. (Wil aber iemen wesen fro).
Die unikal überlieferte Strophe A Niune 44, in der ein Ich seine Beständigkeit beteuert, leitet über zur Minneklage A Niune 45f. et al., einer Reinmar-Parallelüberlieferung.
Das unikal unter Niune tradierte Frauenlied A Niune 47 mit seiner dominierenden Naturbildlichkeit spielt mit Darstellungsmodi, die aus dem sogenannten frühen Minnesang bekannt sind. Mit A Niune 48 et al. liegt eine Strophe vor, die hier und in C unter Rubin und (?) Rüedeger als Einzelstrophe steht, während sie später in c Teil eines mehrstrophigen Neidhart-Lieds ist. Nach einem Kreuzlied A Niune 49–51 et al., das BC unter Albrecht von Johansdorf führt, schließt sich mit dem Winterlied A Niune 52–58 et al. erneut eine Neidhart-Parallelüberlieferung an.
Das Korpus schließt mit der Parallelüberlieferung eines eher ›untypischen‹ Reinmar-Lieds: dem Freudenlied mit Sommer-Natureingang A Niune 59–61 et al.
Insgesamt zeigt sich ein kaleidoskopartiger Wechsel von Liedtypen, Sprechrollen und Sprechmodi. Mit Spielarten wie Klage- und Freudeausdruck, männlichem Ich-Lied, Frauenlied und Dialoglied, poetisierendem, gnomischem, didaktischem, obszönem Gestus, Walther-Zitat und Neidhart-Liedtyp, Kreuzlied und Tagelied, mit Langversstrophe und Kanzonenform gibt das Korpus einen denkbar vielfältigen Einblick in die Möglichkeiten lyrischen Sprechens über Minne.
Simone Leidinger