Autor
Schenk Uͦlrich von Winterstetten (Korpustitel in C, fol. 84v) rechnet nicht nur zu den wichtigsten und produktivsten Minnesängern des 13. Jahrhunderts; er ist auch historisch als Mitglied einer politisch bedeutenden schwäbischen Ministerialenfamilie gut greifbar, die in engem Kontakt zum Stauferhof stand. Sein Großvater Konrad von Tanne-Winterstetten agierte als Vertrauter Friedrichs II., Vormund Heinrichs VII. und Berater Konrads IV., außerdem war er (nach Auskunft von deren Dichtungen) Gönner Ulrichs von Türheim und Rudolfs von Ems. Der Stammsitz der Familie lag bei Winterstettenstadt (Landkreis Biberach, Oberschwaben); einige Mauerreste sind noch heute zu sehen.
Ulrich von Winterstetten urkundet mehrfach zwischen 1241 und 1280. Er trat hervor als Schenke von (Schmalegg‑)Winterstetten und Verwalter der Burghut zu Kempten (gemeinsam mit seinem Bruder Heinrich), als Augsburger Kanonikus und als Pfarr-Rektor von Biberach (gemeinsam mit seinem Bruder Eberhard). Ein Namensvetter Ulrichs, der 1239 bezeugt ist, kommt aufgrund des ihm fehlenden Schenkentitels nicht ernsthaft als unser Dichter infrage.
Die Korpusminiatur in C vom Maler des Grundstocks zeigt, wohl als Botenbild, eine große Figur, die ein leeres Spruchband einer deutlich kleineren Figur darreicht. Oben firmiert mittig ein goldener Helm mit je einem schwarzen N-förmigen Haken – dem Wappen derer von (Schmalegg‑)Winterstetten – in drei Helmbüschen, derselbe N-förmige Haken wird, wiederum schwarz auf goldenem Grund, im Wappen rechts oben wiederholt, das sonst völlig schmucklos bleibt.
Überlieferung
Die Dichtung Ulrichs von Winterstetten ist fast ausnahmslos unikal in C erhalten. Das vom Grundstockschreiber AS in zwei Arbeitsphasen anglegte Korpus (fol. 85r–95r) beginnt mit fünf Leichen, denen insgesamt 155 Minneliedstrophen nachfolgen, die sich zu 40 Liedern gruppieren. Die meisten davon sind fünf- oder dreistrophig, Ausnahmen davon sind selten, und wo es sie gibt, zeigt in der Regel freigelassener Raum an, dass schon die C-Werkstatt mit verlorenem Textmaterial rechnete (siehe unten). Diese insgesamt elf Aussparungen beginnen früh (fol. 88v), konzentrieren sich aber auf die zweite Phase der Niederschrift ab fol. 91v. Nach dem Korpus bleiben fol. 96r–97v leer; auch dies könnte darauf hindeuten, dass man Nachträge erwartete.
Charakteristisch für das Korpus ist, dass die formale Präzision ca. der ersten zwei Dutzend Minnelieder ein sonst kaum gekanntes Maß erreicht (siehe unten sowie die Textkommentare). Die Texte sind meist streng alternierend, die Reime rein, alle formalen Details wirken streng reguliert. Im weiteren Verlauf des Korpus allerdings verliert sich diese Präzision nach und nach, auch in den fünf Leichen ist sie mal mehr, mal weniger gegeben. Dies deutet darauf hin, dass diese korpusinterne Variabilität zumindest auf die Vorlagen, vielleicht auch auf den Dichter selbst zurückgeht, zumal die strenge Regulierung des größeren Teils der Verse nicht schlecht passt zur exuberanten Formkunst Ulrichs von Winterstetten. Jedenfalls wird man, sollten sich vergleichbare Funde aus anderen Korpora beibringen lassen, die heute geläufige Annahme, die C-Bearbeiter hätten in ihre Texte energisch eingegriffen, zu revidieren haben. Es wäre nämlich oft ein Leichtes gewesen, etwa die regelmäßige Alternanz auch in nachlässigeren Korpusstrophen herzustellen, doch ist dies unterblieben. Dazu kommt, dass die metrische Regelmäßigkeit immer wieder von dreisilbigen Wörtern (tugende, vogelîn) gestört wird, die auch ohne Weiteres zweisilbig (tugent, vogel) hätten gesetzt werden können, was eventuell als Vorliebe des Schreibers zu erklären wäre.
Nachträge im C-Korpus stammen (teils) evtl. von anderer Hand: C Wint 8 (Korrekturen), 37 (Korrektur), 39 (Superskript-e), 48 (Korrektur und Superskript-e). Die Str. 73 bis 160 (fol. 91r bis 95r) sind vom selben Schreiber, aber in einer späteren Arbeitsphase als die erste Hälfte des Korpus niedergeschrieben (Henkes-Zin, S. 17, 34, 40).
Neben dem C-Korpus gibt es nur spärliche Streuüberlieferung: C Wint 130–134 ist ein zweites Mal in C unter dem Taler erhalten (C Taler 2–6). Die erste Strophe von C Wint 31–33 findet sich anonym und als Einzelstrophe in P1 Namenl 4 als vierte Strophe eines Pasticcios aus vier älteren Minnesangstrophen. ›Schreibers Bruchstück‹, das nur über den Abdruck von 1839 fassbar ist, bringt 21 Verse aus Ulrichs viertem Leich. Es stellt zugleich die einzige Melodieüberlieferung zu Ulrich von Winterstetten dar. Nicht unter der Rubrik Parallelüberlieferung zu verbuchen ist die Tatsache, dass die beiden (im Übrigen nicht sehr spezifischen) Eingangsverse von C Wint 158–160 andernorts gleichsam zitiert werden (siehe den Textkommentar).
Werk
Alle fünf Leiche Ulrichs von Winterstetten sind Minneleiche, drei von fünf haben Natureingang und (mehr oder weniger deutlich ausgeführten) Tanzschluss (C Wint 2, 3 und 4), was die Leiche thematisch mit den Minnekanzonen verbindet. Typisch für die Leiche (wie auch für viele der Lieder) ist eine wenig verbindliche Durchmischung minnesangtypischer Motive, Begriffe und Formeln; Textkohäsion und Textkohärenz sind oft sehr schwach ausgeprägt (vgl. die Inhaltsanalysen bei Kreibich, S. 64–84). Tatsächlich gilt für die Leiche: »Die Texte sind im Inhalt sehr dürftig.« (Kuhn, S. 108)
»Man muß jedoch Ulrich in seinen Leichen vor allem als formalen (musikalischen?) Baukünstler nehmen – der Text bedeutet ihm nur eine fast zufällig gewordene Textierung.« (Kuhn, S. 109) »Es entstehen Gebilde von mitreißender Rhythmik, in denen der Inhalt, eine Reihung von zur Formel erstarrten Minnesangmotiven, eine untergeordnete Rolle spielt.« (Ranawake, Sp. 57) Die Leiche stechen denn aus der deutschen Leichdichtung des 13. Jahrhunderts auch heraus mit ihrem Reimreichtum und ihrer feingliedrigen formal-tektonischen Präzision. Leich I, IV und V weisen gewisse Ähnlichkeiten der Makrostruktur auf, die auf einem Hang zum Estampie-Typus beruhen könnten; Leich II und teilweise auch Leich III wiederum scheinen verwandt mit dem von vielfältigen Lizenzen geprägten französischen Lai-Typus (vgl. die Textkommentare).
Ähnlich formartistisch sind Ulrichs Lieder. Ulrich verwendet ausschließlich Kanzonenstrophen, gibt diesen aber eine sehr individuelle Prägung. Dies gilt schon in grobtektonischer Hinsicht: Ulrich baut gerne komplexe Kanzonenformen (z. B. C Wint 60–64), immer wieder hat der Abgesang stollige oder stollenähnliche Struktur (z. B. C Wint 65–67, C Wint 91f.), wenn die abundante Reimfülle es auch häufig schwer macht, präzise Aussagen zur Tektonik zu formulieren, zumal die Versgrenzen manchmal fließen (z. B. C Wint 130–134). Im Korpus überwiegen fünf- und dreistrophige Lieder (vgl. die Korpusübersicht), die Tagelieder (siehe unten) sind ausschließlich dreistrophig, die Minnekanzonen überwiegend fünfstrophig. Dieses Prinzip ist bereits in C erkannt: Bei Unterfüllung dieser Normen ist am Liedende wie gesagt regelhaft Platz freigelassen, um auf (drei oder) fünf Strophen zu kommen, man rechnete offenbar mit (der Möglichkeit von) Nachträgen, und in den meisten Fällen ist diese Annahme aufgrund der Stropheninhalte nicht unplausibel.
Klar fassbar ist die Vorliebe Ulrichs für Refrains: Seine Minnekanzonen haben diesen fast ausnahmslos, nur die Tagelieder und das Frauenlied (siehe unten) sind ohne Refrain sowie die Lieder C Wint 14–15, C Wint 73f. und C Wint 135–137; schwer zu beurteilen ist der Status der Einzelstrophe C Wint 157. Auffällig ist, dass die drei bzw. vier genannten Lieder ohne Refrain auch in anderer Hinsicht Fremdlinge im Korpus darstellen (Strophenzahl, formale Defekte etc.; siehe die entsprechenden Textkommentare). Die Refrains sind häufig (z. B. syntaktisch) kunstvoll mit den Strophen verflochten, inhaltlich sind pointierte Kontrasteffekte zwischen Strophe und Refrain die Regel. Gründlich untersucht sind die Refrains in der allerdings sehr sperrigen Studie von Streicher.
Der Reimreichtum (bis hin zu Schlagreimfolgen) begabt Ulrichs Lieder mit einer unerhörten Klangfülle. Editorisch ist es (auch bei den Leichen) sehr oft schwierig, End- von Binnenreimen zu scheiden. Formgeschichtlich auffällig ist eine Reihe von Reimen, die in der Senkung stehen oder (je nach Metrisierung der Verse) stehen könnten (verzeichnet im Textkommentar zu C Wint 4). Dass die Syntax nicht selten geradezu lateinisch-verschroben ist, wird ebenfalls maßgeblich vom Reimreichtum induziert sein.
Am Versbau fällt vor allem an den ersten beiden Dritteln der Korpusstrophen das Prinzip regelmäßiger Alternanz auf, wie es der Minnesang sonst in dieser Strenge nur selten kennt. Gegen Ende des Korpus verliert sich dieser Habitus nach und nach, auch die Leiche sind wesentlich weniger davon geprägt. Die Hauptmasse der Lieder aber lässt betonte und unbetonte Silben sehr regelmäßig wechseln, wenn man als Leser die übliche lautliche Flexibilität an die aufgeschriebenen Texte heranträgt (Elision, Krasis etc.). Dieser Befund ist nicht nur bemerkenswert, weil er – vielleicht (siehe oben) – auf den Dichter selbst zurückverweist; er ist auch insofern verblüffend, als die Lieder weitgehend jenem puristischen Ideal entsprechen, das man im 19. und früheren 20. Jahrhundert ganz allgemein für die höfische Dichtung hat ansetzen wollen. Die Lieder Ulrichs führen vor, dass dieses Ideal kein Phantasma der modernen Philologen ist, sondern dass es – wenn auch nur als ein Modus neben weiteren – bereits in der mittelhochdeutschen Lieddichtung selbst greifbar wird.
Dem Inhalt nach gibt es ein Frauenlied (C Wint 150–152) und fünf Tagelieder (C Wint 31–33, C Wint 57–59, en bloc: C Wint 111–113, C Wint 114–116, C Wint 117–119); der Rest sind Minnekanzonen, die thematisch das gesamte Spektrum zwischen Liedern der Hohen Minne und Neidhartischem abdecken. Die Tagelieder sind weitgehend konventionell (eine Besonderheit stellt die Dienerin in C Wint 117–119 dar), es überwiegt Figurenrede. Das Frauenlied erhält von der sichtlichen Derbheit der Sprecherin eine ironische Note. Dasselbe gilt für manche der Minnekanzonen. Die Beobachtung der älteren Forschung, dass Ulrichs Kunst mitunter die Form gegen den – nicht durchgängig, aber häufig – schematischen Inhalt (Natureingang, Minneklage, Frauenpreis, Artikulation der Hoffnung auf Erhörung etc.) erkennbar privilegiert, wird man nicht pauschal ablehnen wollen.
Im Einzelnen bleibt oft in Schwebe, ob semantische Brüche auf Nachlässigkeiten der Motivklitterung oder auf subtile konzeptuelle Experimente hindeuten; die lakonische Installation dieser Phänomene lässt rezeptionsseitig beide Sichtweisen zu. Immer wieder zu beobachten sind ein Changieren zwischen den Instanzen Minne und Geliebte und jähe Kombinationen von Frauenpreis und Minneklage. Thematisch hervorstechend sind die mehr oder weniger ›unhöfischen‹ Gesprächslieder, die in jüngerer Zeit die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen haben (C Wint 16–20, C Wint 47–51, C Wint 147–149; siehe die Textkommentare). Sie laden ein zu metapoetischen und poetologischen Lektüren, wenn sie diese auch nicht offensiv einfordern.
Das zuletzt Gesagte deutet schon darauf hin, dass die Dichtung Ulrichs von Winterstetten im Fach einer schleichenden Neubewertung unterliegt. Während man ihm früher ›nur‹ artistische Formbeherrschung attestierte und zugleich semantische Leerläufigkeit und Schematik zum Vorwurf machte, werden gerade einige der Lieder heute mitunter als originelle, vielleicht gezielt parodistisch-pointenhafte, wenn man so möchte, saturae gewertet. Schon Hausner hat auf den sinnstiftenden Einsatz besonders des Refrains hingewiesen und darin eine Form der »Sprachreflexion« (S. 364) erkennen wollen: Die Refrains entfalteten nachgerade subversives Potential, wenn Ulrich sie schrägsinnig dazu einsetze, »das Phänomen uniformen Sprechens ausdrücklich zu thematisieren« (S. 363); die Lieder würden durch diese »Thematisierung sprachlicher Repetition« zu so etwas wie einer »metasprachliche[n] Darstellung des Phänomens ›Minnesang‹ schlechthin« (S. 364). Händl hat die komplexen Rollen und Kommunikationssituationen in Ulrichs Liedern studiert; Laude will (mit Bezug auf die Gesprächslieder) eine eigene Kunstauffassung Ulrichs ausmachen, die sichtbar würde an der »Demontage der Sänger-Rolle« (S. 3) und an der Reaktion von Frauenfiguren auf das Minnesingen: Eine Loslösung des Minnesangs von ethisch-didaktischen Belangen, der aufgegebene Anspruch auf Echtheit der Emotionen, Ironie, Dissimulatio, Lüge, sie alle öffneten der Liebeslyrik einen autonomen Kunstraum. Bauschke-Hartung sieht Formvirtuosität und metapoetisches Spiel glücklich verbunden im Modus intertextueller Referenzen auf andere Minnesänger.
Diese latente Aufwertung oder fachliche Eingemeindung, deren wichtigster Stichwortgeber Cramer war, verbindet Ulrich von Winterstetten mit Gottfried von Neifen, dem er auch stilistisch und literarhistorisch eng verwandt ist, wovon eine Reihe von Similien zeugt (siehe die Textkommentare sowie de Jong, S. 102–125 mit einer detaillierten Vergleichung einzelner Stellen). Die Gewichtung zwischen bloßer Formartistik/Formalismus und semantischer Komplexität ist mit diesen Neubewertungen ein kleines Stück weit verschoben (denn von einer energischen Neubewertung kann keine Rede sein), die axiologische Prävalenz von Inhalt und Semantik im fachlichen Diskurs aber nicht angetastet.
Es bleibt die Verlockung, die immer wieder begegnende textinterne Thematisierung von Tanz und Unterhaltung bei Ulrich von Winterstetten mit den argumentationslogischen V-Effekten und den formartistischen Experimenten, die seine Leiche und Lieder prägen, kurzzuschließen. Mehr als eine Vermutung kann das freilich nicht sein; und vielleicht ist problematisch weniger das Bild, das man sich mit dieser Vermutung von der Dichtung Ulrichs von Winterstetten macht, als jenes Bild eines primär inhaltssensiblen, problembezogenen, latent unterhaltungsabstinenten und formneutralen Davor, in dem Geltung nur das Wort hätte.
Florian Kragl