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Reinmar, ›Mir ist geschehen als eime kindeline‹
E Reinm 152 (364)
I
IE Reinm 152 (364) = MF 145,1
Überlieferung: München, UB, 2° Cod. ms. 731, fol. 190vb
E Reinm 153 (365)
II
IIE Reinm 153 (365) = MF 145,9
Überlieferung: München, UB, 2° Cod. ms. 731, fol. 190vb
E Reinm 154 (366)
III
IIIE Reinm 154 (366) = MF 145,17
Überlieferung: München, UB, 2° Cod. ms. 731, fol. 191ra
E Reinm 155 (367)
IV
IVE Reinm 155 (367) = MF 145,25
Überlieferung: München, UB, 2° Cod. ms. 731, fol. 191ra

Kommentar

Das erste der Rätsel, die die Strophe bzw. das Lied ›Mir ist geschehen als einem kindeline‹ aufgibt und die es zu einem der meistinterpretierten Texte des Minnesangs gemacht haben, stellt die Frage nach seinem Autor dar. C (und mit ihr C1) ordnen es unter Heinrich von Morungen ein, allerdings überliefern sie nur eine einzige Strophe. Dagegen weist E seine vier­stro­phige Fassung, die mit derselben Strophe einsetzt, Reinmar dem Alten zu. Die Forschung – sowohl die Editionen als auch die Interpreta­tionen – spricht das Lied in der Regel Heinrich zu, und zwar auch das vier­stro­phige. Wo sie diese Entschei­dung überhaupt begründet – vielfach begnügt man sich mit der Berufung auf die Konvention (Schweikle, 69) –, führt sie hierfür neben stilistischen vor allem motivische Kriterien an. Was den Stil angeht, so unterscheidet sich Morungen von Reinmar durch einen intensiven Bildgebrauch, wie er sich etwa in den viel gedeuteten Vergleichen bzw. Gleichnissen des Sprecher-Ich mit einem Kind in den Str. I und III findet (Leuchter, 93; Ludwig, 53–56). Die Motive der Liebesentrückung, des Schauens und des Traums, aber auch die der Gewalt und des Todes sind bezeichnend für Morungens Œuvre. Ein gewichtigeres Argument für die Autorschaft Morungens stellt freilich die Referenz auf den antiken Mythos dar, da solche Bezüge Morungens Minnesang in besonderer Weise auszeichnen (Schwietering 1948/1950, 86f.; Rupp 2009). Seine Geltung setzt freilich voraus, dass man in Str. III, vielleicht auch schon in Str. I, eine Anspielung auf Narziss bzw. Ovid erkennt – nur dann lässt sich das Lied sinnvoll als ›Narzisslied‹ apostrophieren –, was wahrscheinlich, aber angesichts der Aussparung des Namens ›Narziss‹ nicht zwingend ist (Callesen, 17; Heinen, 57; Hrubý, 11; Irler, 183f.; Kern, 46; Leuchter, 97; Rupp, 39f.; Speckenbach, S. 43) – ein Urteil, das man auch auf die Zuschreibung des Textes zu Morungen übertragen könnte. Diese bleibt problematisch (da zirkulär), solange man sie nur auf die Stil- und Motivanalyse stützt (Heinen).

Man kann sie freilich durch ein Argu­ment ergänzen, das auf einer anderen Ebene liegt, nämlich das, wonach die Autorzuschreibung in C größeres Gewicht besitzt als die in E, zumal letztere das Lied im heteroge­nen Nachtrag z2 bewahrt (Haus­mann, 161f.). Gestützt wird diese Sicht, wenn man die Miniaturen in C, aber auch in B als Illustrationen des ›Narzissliedes‹ versteht (Kern, 45f.; Krass, 81–83; Peschel, 26f.; Speckenbach, 38–41); allerdings sind diese Interpretationen der Bilder durchaus unsicher (Leuchter, 93f.), und B enthält das Narzisslied ja gerade nicht, und die B-Miniatur findet sich in C bei dem voranstehenden von Gliers. Selbst wenn man Morungen für den Autor beider Fassungen hält, ist damit deren Verhältnis noch nicht geklärt (Stein, 147f.): Dass die in C nur aus einer einzigen Strophe besteht, könnte auf einen Überlieferungsdefekt zurück­gehen; dann verträte die vier­stro­phige in E die ›eigentliche‹ Gestalt des Textes. Man könnte die ein­stro­phige Fassung aber auch gleichberechtigt neben die vier­stro­phige stellen, und sie als eigenständigen Text verstehen. Ob die Lang- oder die Kurzversion die primäre ist, bliebe dann offen.

Ein zweites Rätsel gibt die angebliche Vorlage auf, eine drei­stro­phige altokzitanische Kanzone (Str. II bleibt hier ohne Entsprechung). Publiziert ist sie 1858 bei Bartsch, der sie in einer Abschrift des 18. Jhs. entdeckt haben will. Das Manuskript lässt sich aller­dings nicht mehr auffinden, weshalb vermutet wird, dass sich die ›Aissi‹-Kanzone einer Täuschung, einem Irrtum oder sogar einer Fälschung Bartschs verdankt (Hölzel; Huber, 593; Kasten, 803–805; Zotz, 223–225). Außerdem ist fraglich, ob der okzitanische Text wirklich vor den deutschen zu datieren ist, dieser also von ihm abhängt, oder ob nicht beide unabhängig voneinander auf andere Vorlagen bzw. Anregungen zurück­gehen (Heinen, 62; Hölzel, 452–455; Huber, 593).

Ein drittes Rätsel gibt die Semantik des Textes auf. Es tritt in den Interpretationen zu Tage, die etwa dem Spiegelmotiv, seinem Verhältnis zur Tradition, seiner kulturellen Signifikanz sowie seiner Psycho-Dynamik nachspüren (Bleumer, 139–143; Goldin, bes. 151–160; Hayes; Huber; Hrubý; Kern, 51–67; Krass; Kühnel; Peschel; Schmid, bes. 568–571; Schmidt, bes. S. 240–246; Vinge, 66–72). Weitere fragen nach der Bedeutung der Gewalt-, Verletzungs- und Todesmotivik (Kellner, 56–65) sowie danach, ob der Text als selbst- oder gattungsreflexiv aufzufassen ist und welche Signifikanz ihm also für die Geschichte des Minnesangs zukommt (Heinen, 57; Kaiser, 323f.; Kern, 67–73; Müller; Obermaier, 56f.; Pfeiffer, 489–494; Reusner, 584–586; Schmid, 570f.; Specken­bach, 52f.; Stein, 159f., 166–168; Wenzel, 218; Wiseniewski, 22–25; Wolf, 345). Die Schwierigkeiten des Textverständ­nisses nehmen ihren Ausgang von den beiden Kinder-Gleichnissen, die mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladen und damit polyvalent sind, die von ihrer Auslegung nicht voll eingefangen werden und die durch ihre Parallelität zu einer Verknüpfung einladen, die aber eben auch nicht bruchlos gelingt (Bleumer, 335–339; Callesen,18; Huber, 590f., 606; Hübner, 165f.; Hrubý, 7f.; Kasten, 805; Kellner, 59f.; Kühnel, 272f.; Leuchter, 100–110; Ludwig, 66–69; Peschel, 30; Räkel, 98; Speckenbach, 42; Stein, 149–151, 157f.; Wolf, 337f.; Zotz, 232). Auch lässt die Verwundung des Mundes der Dame die Leerstelle ihrer Verursachung, und sie stellt die Frage nach ihrer Bedeutung (Kellner, 59f., 62; Leuchter, 105f.; Hübner, 169; Peschel, 32f.; Reusner, 583f.; Stein, 162f.; Zotz, 236f.), die auch deshalb so schwer zu beantworten ist, weil sie in einem Traum geschaut wird (Speckenbach, 44–49). Letzterer verdunkelt den Sinn des Textes weiter, zumal unklar ist, wo er eigentlich endet (Callesen, 19; Eisbrenner, 290f.; Kern, 49; Zotz, 231, 236).

Klar ist hingegen die metrische Struktur des Textes (Ranawake, 186–188), dessen Abgesang Material des Aufgesangs wieder aufgreift: 6ka 6mb 6ka 6mb 6mb 6ka 6ka 6mb. Auffällig sind zudem die Reimrespon­sionen, die die Str. I und II sowie III und IV verklammern und so Spiegeleffekte erzeugen (Peschel, 31). Dass der V. II,8 um eine Hebung verkürzt und damit ›defizitär‹ ist, lässt sich zwanglos auf dessen Inhalt – das Defizit der Dame – beziehen (Peschel, 32; Stein, 162). Ähnliches gilt für den V. III,2, der ebenfalls unterfüllt ist.

Literatur: K. Bartsch: Zu Heinrich von Morungen, in: Germania 3 (1858), 304–307. – H. Bleumer: Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen, in: ZfdPh 129 (2010), 321–345. – G. Callesen: Zum Narzißmus gezwungen. Heinrichs von Morungen ›Mir ist geschehen als einem kindelîne‹ (145,1), in: WW 49 (1999), 17–26. – A. Eisbrenner: ›Minne, diu der werlde ir vröude mêret‹. Unter­suchungen zum Handlungs­aufbau und zur Rollen­gestaltung in ausgewählten Werbungsliedern aus ›Des Minnesangs Frühling‹, 1995. – F. Goldin: The Mirror of Narcissus in the Courtly Love Lyric, 1967. – A. Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, 1999. – N. K. Hayes: Negativizing Narcissus: Heinrich von Morungen at Julia Kristeva’s Court, in: The Journal of the Midwest Modern Language Association 22 (1989), 43–60. – H. Heinen: Reinmar als Narziss: zu MF 145,1 e, in: ›Dâ hœret ouch geloube zuo‹. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für G. Schweikle anläßlich seines 65. Geburtstags, hg. v. R. Krohn, 1995, 51–64. – P. Hölzle: ›Aisse m’ave cum al enfan petit‹ – eine provenzalische Vorlage des Morungen-Liedes ›Mirst geschên als eime kindelîne‹ (MF 145,1)?, in: Mélanges d’histoire littéraire, de linguistique et de philologie romanes offerts à Charles Rostaing, Liège 1974, 447–467. – A. Hrubý: Historische Semantik in Morungens ›Narzissuslied‹ und die Interpretation des Textes, in: DVjs 42 (1968), 1–22. – Ch. Huber: Narziß und Geliebte. Zur Funktion des Narziß-Mythos im Kontext der Minne bei Heinrich von Morungen (MF 145,1) und anderen, in: DVjs 59 (1985), 587–608. – G. Hübner: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone, Bd. 1, 1996. – H. Irler: Minnerollen – Rollenspiele. Fiktion und Funktion im Minnesang Heinrichs von Morungen, 2001. – G. Kaiser: Narzissmotiv und Spiegelraub. Eine Skizze zu Heinrich von Morungen und Neidhart von Reuental (1981), in: Neidhart, hg. v. H. Brunner, 1986, 320–333. – B. Kellner: Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen, in: PBB 118 (1997), 33–66. – M. Kern: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik, 1998. – J. Kühnel: Heinrich von Morungen, die höfische Liebe und das ›Unbehagen in der Kultur‹, in: ›Minne ist ein swaerez spil‹. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, hg. v. U. Müller, 1986, 253–282. – A. Krass: Der zerbrochene Spiegel. Minnesang und Psychoanalyse: Das Narzisslied Heinrichs von Morungen, in: Narziss und Eros. Bild oder Text?, hg. v. E. Goebel u.a., 2009, 77–100. – Ch. Leuchter: Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik und Poetik Heinrichs von Morungen, 2003. – O. Ludwig: Komposition und Bildstruktur. Zur poetischen Form der Lieder Heinrichs von Morungen, in: Mittelhochdeutsche Lyrik, hg. v. H. Moser u.a., 1968 (Sonderheft ZfdPh 87), 48–71. – J.-D. Müller: Heinrich von Morungen: ›Mir ist geschehen als einem kindelîne‹ (MFr 145,1), in: GRM NF 60 (2010), 3–26. – S. Obermaier: Von Nachtigallen und Handwerkern. ›Dichtung über Dichtung‹ in Minnesang und Sang­spruchdichtung, 1995. – D. Peschel: Ich, Narziß und Echo. Zu Heinrichs von Morungen: ›Mir ist geschehen als einem kindeline‹, in: GRM NF 30 (1980), 25–40. – J. Pfeiffer: ›Zeit‹ als Moment einer poetologischen Fiktionalitäts-Reflexion im Hohen Minnesang. Zu Walthers von der Vogelweide ›Lange swîgen des hât ich gedâht‹ und Heinrichs von Morungen ›Mir ist geschehen als einem kindelîne‹, in: Das Sein der Dauer, hg. v. A. Speer u.a., 2008, 473–494. – H. H. Räkel: Das Lied von Spiegel, Traum und Quelle des Heinrich von Morungen (MF 145,1), in: LiLi 7/26 (1977), 95–108. – E. v. Reusner: Hebt die Vollendung der Minnesangkunst die Möglichkeit von Minnesang auf? Zu Morungen ›Ich hôrte ûf der heide‹ (MF XXII; 139,19) und ›Mir ist geschehen als einem kindelîne‹ (MF XXXII; 145,1), in: DVjs 59 (1985), 572–586. – M. Rupp: Narziß und Venus. Der lyrische Blick auf die Antike bei Heinrich von Morungen, Konrad von Würzburg und dem Wilden Alexander, in: »Texte zum Sprechen bringen«. Philologie und Interpretation. Fs. P. Sappler, hg. v. Ch. Ackermann u.a., 2009, 35–48. – E. Schmid: Augenlust und Spiegelliebe. Der mittelalterliche Narziß, in: DVjs 59 (1985), 551–571. – M. Schmidt: Identität und Distanz. Der Spiegel als Chiffre in der höfischen Dichtung des Mittelalters, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 19 (1978), 233–255. – G. Schweikle: Doppelfassungen bei Heinrich von Morungen, in: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Fs J. Asher, hg. v. K. Smits u.a., 1981, 58–70. – J. Schwietering: Der Liederzyklus Heinrichs von Morungen, in: ZfdA 82 (1948), 77–104. – K. Speckenbach: Gattungsreflexion in Morungens Lied ›Mir ist geschehen als einem kindelîne‹ (MF 145,1), in: FmSt 20 (1986), 36–53. – A. Stein: »vntz daz sin hant den spiegel gar zebrach«. Reflexionen über die Destruktion virtueller Realität in »hern reymars ›Mir ist geschehen als eime kindeline‹«, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996, 1998, 147–168. – L. Vinge: The Narcissus Theme in Western European Literature up to the Early 19th Century, 1967. – F. Wenzel: Die alte niuwe Klage. Reflexionen über die Folgen narzißtischer Begierde in der Minneklage Heinrichs von Morungen, in: Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation, hg. v. St. Müller, 2002, 211–222. – R. Wisniewski: Narzißmus bei Heinrich von Morungen, in: Fs H. de Boor, hg. v. den Direktoren des Germanischen Seminars der Freien Universität Berlin, [1966], 20–32. – G. Wolf: Minnesang unter Narzißmusverdacht – Überlegungen zu Heinrichs von Morungen ›Mir ist geschehen als einem kindelîne‹ (MF 145,1), in: Das Gedichtete behauptet sein Recht. Fs. für W. Gebhard, hg. v. K. H. Kiefer u. a., 2001, 333–345. – N. Zotz: Intégration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang, 2005. Manuel Braun

Weitere Literaturangaben:

Abel, Der Blick des Kindes, v. a. S. 281-291.

Callesen, Zum Narzißmus gezwungen, S. 17-26.

Dünninger, ‚diu liebe und diu leide, S. 80-93.

Eming, Melancholie im Minnesang, S. 27-52.

Fisher, The Minnesinger, S. 284-295.

Haferland, Hohe Minne, S. 296.

Henkel, Vagierende Einzel­stro­phen, S. 26f.

Hon, Minnesang trifft Pijjut, S. 608f.; 612.

Irler, Minnerollen, S. 169-185.

Kellner, Spiel der Liebe, S. 224-236.

Kern; Edwards; Huber, Das Narzisslied.

Keul, Semantic Structures, S. 378-395.

Kraß, Höfische Lyrik, S. 196-199; allgemein auch S. 72f.

Leuchter, Dichten im Uneigentlichen, S. 90-110.

Mittler, Virtualität, S. 322-332.

Müller, ‚schaten', S. 273-282.

Frings, Lied vom Spiegel, S. 70-200.

Oswald, Spiegelphänomene, S. 119-122.

Rüther, HvM und die Moringer-Ballade, S.  118-122.

Schweiger, Textkritische und chronologische Studien, S. 303-314.

Stolz, ‚Phantasma', S. 371-387.

Von Kraus, HvM, S. 82-84.

Von Kraus, Zu den Liedern HvM, S. 54-55.

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