Überlieferung: L überliefert ein siebenstophiges Lied, C ein fünfstophiges ohne die letzten beiden L-Strophen. von Kraus, S. 555, vermutet, der Schreiber habe möglicherweise »am Inhalt Anstoß genommen«. In C schließt dabei eine zweite Minnephantasie C 305–311 an, die ebenfalls explizit die körperliche Liebe thematisiert.
Form: 4-a 4b / 4-a 4b // 4c 6c
Inhalt: Der Frauenpreis führt zur erotischen Minnephantasie.
Mit Str. I fordert das Ich die Rezipienten auf, ihm den nötigen Raum zu geben, um sich vor der Dame verneigen zu können. Diese Verneigung erfolgt dann in Form von Gesang: Das Ich lobt ihre zahlreichen tugende (vgl. I,1–5), woran es mit I,6 eine Liebesbeteuerung anschließt; die tugende führen somit auf die Liebe hin. In Str. II und III thematisiert das Ich sein personifiziertes Herz: Das Herz wünscht, in der Brust der Geliebten zu sein; es versucht, mit hohen Sprüngen dorthin zu gelangen (vgl. II,5f.). Auslöser für die Sprünge ist das Lachen der Geliebten, das dazu führt, dass man die Liebe des Ichs an ihm erkennen kann (vgl. III,1f.). Anders als C wiederholt L in Str. II das Reimwort libe (L II,1/3), was die Körperlichkeit des Herztauschbildes verstärkt. Str. IV und V widmen sich dem Kuss: Das Ich will der Geliebten ein wort ku̍ssen in ir munt (C IV,2), durch das sich an ihr die minne zeigt (vgl. Str. V). Das Adjektiv minnevar in III,2 und IV,6 (›nach Liebe oder lieblich aussehend‹, vgl. Le I, Sp. 2156) gehört dabei zu einer Gruppe von Komposita mit -var, die sich nicht auf einen Farbgegenstand beziehen, sondern die einen Zustand ausdrücken (vgl. Herbers, S. 422f.), hier also minne; der direkte Kontext kann aber eine Farbassoziation aufrufen. Im vorliegenden Fall betont das Adjektiv die erwünschte Reziprozität der minne, da das Ich es sowohl auf sich (III,2) als auch auf die Geliebte (IV,6) bezieht. Herzklopfen und Kuss auf den roten Mund der Geliebten in den folgenden Strophen rufen eine Körperlichkeit auf, durch die minnevar vielleicht nicht nur als Abstraktum, sondern auch als Anspielung auf das Rotwerden aufgefasst werden kann. Die abschließenden beiden Strophen in L treiben den Gedanken weiter: Das Küssen wird als der Minnen rose verbildlicht (L VI,1); es reitzet die wunne, die erfüllt würde durch daz eine, des man nennen niht ensol (L VI,6). Aufgrund seiner zuht preist das Ich die körperliche Liebe in Form einer Praeteritio und im Konjunktiv hyperbolisch als wunne unde freude und als freuden hochgezit, die manich reinez hertze erfreut (L VII).
Simone Leidinger