Steinmar gilt als südwestdeutscher Liederdichter aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Urkundlich belegt sind verschiedene Namensträger, sodass die Identität des Sängers nicht eindeutig zu bestimmen ist. Möglich, aber nicht gesichert, ist die Übereinstimmung des Dichters mit dem Schweizer Ministerialen Berthold Steinmar von Klingnau (zum Dichter vgl. z. B. Glier, Sp. 281f., Malm, Sp. 393f., sowie Schiewer); Krywalski, S. 1–29, vermutet dagegen, Steinmayr folgend, eine Identität des Dichters mit Steinmar von Siessen-Stralegg (s. dazu auch die Hinweise zum Wappen der Eingangsminiatur im Abschnitt ›Überlieferung‹).
In seinen Liedern wird nicht nur drei Mal sein Name genannt (C Steinm 2, C Steinm 16, C Steinm 27; die letzteren zwei hält Meissner, S. 60, für spätere, an den Dichter gerichtete Zusatzstrophen), sondern auch Wien (C Steinm 11) und Meißen (C Steinm 44) werden erwähnt, was in der Forschung autobiographisch gedeutet und mit verschiedenen Heerfahrten in Verbindung gebracht wurde – doch auch hier ist der historische Bezug nicht gesichert.
Eine Verbindung des Dichters mit Straßburg ist möglich, denn im nördlichen Seitenschiff des Straßburger Münster befindet sich ein Relief, das vor 1275 gefertigt wurde und die Inschrift steimar trägt. Die dargestellte Szene, ein Mann mit Kapuzenmantel, der in der einen Hand eine Kanne hält, mit der anderen einen Krug zum Mund führt, wird mit Steinmars ›Herbstlied‹ (C Steinmar 1–5) in Verbindung gebracht (vgl. Lübben, S. 58–60; anders dagegen Krywalski, S. 13, der die Inschrift als ›Steinmetz‹ liest). In dem kirchenarchitektonischen Kontext des Reliefs sieht Lübben, S. 59f., eine Parallele zu der Verwandtschaft des ›Herbstliedes‹ mit der lateinischen Vagantenlyrik. Schultz, S. 4f., vermutet in dem abgebildeten Dichter den urkundlich bezeugten Berthold Steinmar von Klingnau als Lehensmann Walthers von Klingen, welcher wiederum in Straßburg ein Haus besaß. Doch sind solch konkret biographische Schlüsse schwierig. Frühmorgen-Voss erwägt: »dargestellt ist nicht der Ritter oder Bürger, sondern den Ruhm des Zech- und Schlemmerliedes wollte der Steinmetz, der in den Reliefrahmen den Namen einritzte, verewigen« (S. 210).
Das Korpus Steinmars umfasst 51 Strophen, zusammengefasst in 14 Liedern, und ist unikal in C unter Steinmar überliefert. Es ist Teil des Grundstock-Segments C und bildet das Ende der 28. Lage, wobei die ersten fünf Strophen von Schreiber AS, der Rest von Schreiber BS stammen (vgl. Henkes-Zin, S. 17, 35). Nach C Steinmar 35 ist Platz für etwa drei Strophen freigelassen, am Ende ist nochmal Raum für etwa fünf Strophen.
Die das Korpus einleitende Miniatur der Heidelberger Liederhandschrift zeigt vier Männer, in Zweiergruppen auf einer Bank sitzend, und einen fünften Mann, der von rechts auf die Sitzenden zukommt. In seiner rechten Hand trägt dieser einen Geflügelbraten, in der linken eine Kanne. Das Bild steht in Verbindung mit dem ersten in C überlieferten Lied, dem ›Herbstlied‹ (C Steinmar 1–5), in dem sich der Sprecher nach erfolglosem Minnedienst von der Dame ab- und dem Herbst zuwendet. Auf dessen Anweisung singt er als Bewährungsprobe ein Preislied auf den neuen Dienstherren, indem er eine Schlemmerszenerie inszeniert, in der ein Wirt Speisen und Wein bringt. Eben jene Figur des Wirtes scheint in der Miniatur mit der Dichterfiguration überblendet zu werden: Der Wirt bringt Speis und Trank und sorgt für leibliches Vergnügen bei den Bewirteten, wie der Dichter sein Publikum mit Liedern ›versorgt‹ und ihnen damit Freude bereitet (zur besonderen Rolle der Freude in Steinmars Œuvre s. Abschnitt ›Inhalt‹) (anders Siebert-Hotz, S. 289, die in dem rotgekleideten sitzenden Herrn mit dem Becher den Dichter erkennen möchte). Die beiden im Hintergrund abgebildeten Linden lassen die Szenerie einem locus amoenus ähneln, gleichzeitig rufen sie den im ›Herbstlied‹ inszenierten Streit zwischen Frühling und Herbst auf und machen aus der im Text inszenierten Konkurrenz ein harmonisches Miteinander (vgl. auch die Wiederaufnahme des Grüntones der Blätter in den Kleidern der äußeren Figuren). Über den Figuren sind links ein Schild, rechts ein Helm mit Helmschmuck abgebildet, beide verziert mit Kleeblättern und einem dunklen Querbalken. Historische Bezüge des Wappens sind nicht sicher belegt. Möglich ist eine Verbindung mit dem Siegel der aus Württemberg stammenden Familie von Siessen-Stralegg (vgl. Steinmayr, S. 4f., sowie Walther, S. 209). Dem widerspricht Krywalski, S. 15f.: Er vermutet eine Verbindung mit einer Heilbronner Patrizierfamilie des Namens ›Gebwîn‹ bzw. ›Gewin‹: »Damit wäre eine Möglichkeit angedeutet, daß das Wappen der Steinmare von Sießen-Stralegg, die durch Friedrich den Johanniter (Gebeine) mit Eutingen in Verbindung standen, tatsächlich das Wappen der Handschrift führten« (S. 16) (vgl. dazu auch den Verweis auf einen Gebewin in C Steinm 2, V. 5) . Ikonographische Parallelen der Miniatur sieht Lübben, S. 57, u. a. im Kalenderbild (Januar [!]), in Abendmahlsszenen sowie in Abbildungen von Gelehrtendisputen.
Steinmars Œuvre setzt sich zusammen aus fünf fünfstrophigen, acht dreistrophigen Liedern und einem zweistrophigen Lied (C Steinm 34 35) (wobei nach letzterem Platz gelassen wurde für drei Strophen; HMS II, S. 157, geht von drei fehlenden Strophen aus). Die Strophen sind meist dreiteilig, oft mit Refrain (dabei sind sowohl ›feste‹, innerhalb eines Liedes gleichbleibende, als auch ›flüssige‹, also leicht modifizierte, Refrains zu finden; zur Terminologie vgl. Hausner, S. 339–342). Kein Refrain liegt vor in C Steinm 6–8, C Steinm 17–19 und C Steinm 28–30 (letztere beiden sind Steinmars Tageliedparodien; zum seltenen Refrain in deutschsprachigen Tageliedern vgl. Hausner, S. 292). Inhaltlich ist das Œuvre gekennzeichnet durch ein teilweise recht freies Verfügen über verschiedene Traditionen, Themen und Motive, ein Spiel mit höfischen Sprachmustern und durch eindrückliche Bildlichkeit.
Spiel mit Traditionen
Das Zusammenspiel aus Anschluss und Abheben von höfischen Sprechmustern in Steinmars Liedern wurde in der älteren Forschung als Kriterium für eine Zyklusbildung herangezogen. So konstruiert Neumann, S. 21–44, die mit einem Entwicklungsnarrativ verbundene Chronologie dreier Phasen:
1. Anschluss an die Tradition der Hohen Minne in den Liedern 2, 12, 3 (die Nummerierung folgt der Ordnung der Handschrift),
2. Schwanken zwischen Anschluss an den höfischen Sang und dessen »Gegenteil« (S. 31) in 4–10, 13, und
3. »Gegensatz zum idealen höfischen Minnesange« (S. 38) mit Stoffen »unhöfischer Art« (ebd.) in 11, 14, 1.
Mit einem ähnlichen Ansatz, aber variierendem Ergebnis Meissner, S. 98–104, sowie Krywalski. Letzterer schließt sich der von Neumann aufgestellten Reihenfolge an (vgl. S. 105), wobei er Steinmars Œuvre in zwei Phasen unterteilt (nochmals differenziert in verschiedene Gruppen, vgl. S. 83): eine frühe Phase mit Dichtungen »in der Konvention des traditionellen Hohen Minnesangs« (S. 79) und eine spätere Phase, deren Lieder »als Parodien bestimmter Traditionen verstanden werden« (S. 80) müssten. Zudem versucht er, ein Netz aus Bezugsfeldern zu konturieren, und sieht Steinmars Lieder nicht nur geprägt von verschiedenen »Strömungen des Minnesangs« (S. 32), sondern erkennt auch Einflüsse aus mittellateinischen Streitgesprächen, Vagantenlyrik, Pastourellen sowie ›volkstümlichen‹ Gattungen wie Martinsliedern, Streitgedichten, Fastnachtsspielen und Schwänken (vgl. S. 32–81). Steinmar parodiere »Minnesang, höfische Epik, Frauendienst, Turnierwelt, Dörpertum, Geistliches« (S. 106).
Hausner untersucht Steinmars Refrain-Gebrauch vor dem Hintergrund seines Umgangs mit Traditionen. Sie geht von der Annahme aus, dass »[d]ie lyrischen Aussagen des 12. und 13. Jhs. [...] durch ein hohes Maß an thematischer Gleichförmigkeit charakterisiert« (S. 289) seien. Darauf habe Steinmar u. a. mit seinen Refrains reagiert: »Die Aufmerksamkeit des Rezipienten wird auf die Vielfalt logischer Funktionsmöglichkeiten des Identen und damit auf das Flexibilitätspotential erstarrter Formen gelenkt« (S. 349). Steinmar spiele also nicht nur mit etablierten Bildern und Sprechweisen, sondern mache über seine dynamischen Refrains das Prinzip der Variation selbst sichtbar. Seine »Modifikationen konventionalisierter Formen« (S. 367), von denen die Gestaltung der Refrains eine sei (zu den anderen vgl. S. 368f.), könnten als »Beitrag zu einer inneren Erneuerung des Phänomens ›Minnesang‹ gelesen werden« (S. 367), worin Hausner zudem eine Polemik gegen Ulrich von Winterstetten erkennen möchte (vgl. S. 372–384). Kritisch zu Hausner äußert sich Lübben, S. 228f., die ihr u. a. in der Problematisierung von Konventionen eine anachronistische Argumentationsweise vorwirft.
Zentrale Rolle der Freude
Inhaltlich spielt die Freude eine herausgehobene Rolle in Steinmars Werk: Die im Minneparadoxon ausgedrückte Verbindung von Freude und Leid wird aufgehoben zugunsten einer auf Erfüllung gerichteten Freude. In ihrer Studie arbeitet Lübben die besondere Rolle dieser fröude-Konzeption bei Steinmar heraus. Sie sieht im ersten in C überlieferten Lied die Entfaltung eines »oeuvre-relevanten froide-Programm[s]« (S. 68): »Analog der epikuräischen Genußphilosophie der Vaganten wird auf diese Weise ein Konzept der unmittelbaren und sinnlichen froide an den Minnesang herangetragen und als Postulat in sie eingebunden« (S. 109). Ob die Lieder wirklich über ein stringentes ›Programm‹ miteinander verbunden sind, lässt sich hinterfragen; deutlich wird aber das spielerische Verfügen über Gattungstraditionen und die Ausrichtung auf die erfüllte Freude.
Das zweite Lied (C Steinm 6–8) gibt einen eher traditionellen Frauenpreis, wobei der Sprecher, erfüllt von Freude, seine Geliebte als Quelle allen Glücks lobt. Eine eher konventionelle Minneklage stellt das dritte Lied (C Steinm 9–11) dar, in dem das Ich die Dame wiederum als Quelle seines Glückes inszeniert und das Publikum um Beistand bittet. Dass dem Sprecher selbst die Rolle als Freudenspender der Gesellschaft zukommt, reflektiert er im vierten Lied (C Steinm 12–16).
Schließen diese Lieder noch recht eng an die Minnesangtradition an, zeigen andere Lieder ein freieres Spiel mit etablierten Sprechmustern und Bildern, die als poetisches Material verfügbar für Variation und Innovation geworden sind. So sind die Lieder fünf (C Steinm 17–19) und acht (C Steinm 28–30) Tageliedparodien: In dem einen wird die klassische Wächterfigur dekonstruiert, in dem anderen führt die Aussicht auf Trennung nicht zu Leid, sondern zu einer erneuten Freude im Heu.
Wie dort, verlagern mehrere Lieder die Freudenerfüllung (bzw. die Aussicht darauf oder den Wunsch danach) in den außerhöfischen Kontext. Dabei stellt die Frau in den Liedern 11 (C Steinm 36–40) und 14 (C Steinm 49–51) eine Minneerfüllung in Aussicht, insofern der Mann ihr die versprochenen Geschenke zukommen lässt, ihr also in einem materiellen Sinne ›dient‹. Das bäuerliche Milieu lässt einerseits an Neidhart denken, andererseits bleibt der Anschluss an die höfische Minnelyrik deutlich. So sieht Neumann, S. 66–95, Steinmars Lieder weniger eng verbunden mit den Liedern Neidharts als mit jenen Gottfrieds von Neifen, Ulrichs von Winterstetten und des Tannhäusers (vgl. auch Krywalski, S. 33–54); einen Einfluss Steinmars Lieder erkennt er etwa bei Johannes Hadlaub oder Walther von Klingen.
Intensive Bildlichkeit
Auffällig ist zudem die bildintensive Sprache Steinmars, die sich ebenfalls im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, zwischen Anschluss an bekannte Sprechmuster und Parodie bewegt. Hervorzuheben ist insbesondere die Naturbildlichkeit: Im ›Herbstlied‹ stellt sich das Ich im Kampf der Jahreszeiten auf die Seite des Herbstes und damit gegen den Frühling, ein »Novum in der Gattungsgeschichte« (Lübben, S. 47).
In den Liedern 3 (C Steinm 9–11), 4 (C Steinm 12–16), 9 (C Steinm 31–33) und 10 (C Steinm 34 35) stehen die Frühlings- bzw. Sommerfreuden im Kontrast zum Leid des Ichs, wobei die Rollen von Sprecher und Natur als Freudenspender reflektiert werden. Im siebten Lied (C Steinm 23–27) dagegen geht die freudige Erwartung auf Minneerfüllung einher mit der freudebringenden Sommerzeit.
Die Sehnsucht nach einem Treffen noch vor Frühlingsbeginn kommt im sechsten Lied zum Ausdruck (C Steinm 20–22), parallel dazu ist das zwölfte Lied (C Steinm 41–45) bestimmt von seiner sehnsuchtsvollen Erinnerung an den Sommer, wobei Frauen- und Naturpreis ineinander übergehen. Auch im dreizehnten Lied (C Steinm 46–48) wird die Sehnsucht nach der Minne- mit jener nach Naturglück verbunden, wobei sich das Ich ein Aufgehen in der Natur wünscht. Herbst und Winter als Zeiten ohne Minneerfüllung mit Hoffnung auf einen freudebringenden Sommer beherrschen das letzte Lied (C Steinm 49–51); im elften (C Steinm 36–40) wird der Winter sogar zu einem möglichen Minnehelfer (der Liebende bietet sich als ›Decke‹ an, der die Frau warm halten kann).
Ein anderes Bildfeld, das immer wieder aufgegriffen wird, ist das Herz: Es ist von der Minne verwundet und kann nur durch den roten Mund der Geliebten ›verarztet‹ werden (C Steinm 10), sie ist durch die Augen in sein Herz gedrungen (C Steinm 14). Weniger konventionell sind dagegen der Vergleich des unruhigen Herzens mit einem Schwein in einem Sack und mit der Wildheit eines Drachens, der sich aus der Brust des Sprechers hin zu der Geliebten kämpfen möchte (C Steinm 15). Widerstandsfähiger als ein Amboss sei ihr Herz (C Steinm 33).
Weitere Bilder sind etwa der Mund der Geliebten als Schloss, die Freude des Ichs, die es höher als den Adler fliegen lässt (C Steinm 48), das Gefangensein des Sprechers durch die Fesseln der Frau (C Steinm 35) sowie das Erschrecken des Ichs vor der Minne wie eine Ente, die auf der Flucht vor einem Falken im Bach abtaucht (C Steinm 34 35). Der Minnevollzug erhält mit der Verlegung ins bäuerliche Milieu einen konkreten Raum, etwa den Strohsack (C Steinm 36–40) oder den Heuboden (C Steinm 28–30). Die Sehnsucht nach (körperlich-wärmender, der Winterkälte entgegenstehender) Nähe zur Geliebten wird mit wärmendem Biertrinken parallelisiert (C Steinmar 45). Eine Schlemmerei als Alternative zum Minnedienst, in der das Ich bis zum Rauchen aufgeheizt wird, inszeniert das ›Herbstlied‹; hier wird der Sprecher schließlich zur Straße der Speisen, der Wein zu einem ein Mühlrad antreibenden Strom, bis seine Seele auf einer Rippe Zuflucht sucht.
So bewegen sich die Bilder zwischen poetischer Metaphorik einerseits, außerliterarischer Konkretheit andererseits, greifen Traditionen auf, übertreiben, verzerren und tragen immer wieder zu ironischen Brechungen mit älteren Sprechweisen bei.
Sandra Hofert
Incipit | Hs. | Strophen | Editionen |
C | 1–5 | SMS 26 1 I | |
C | 6 7 8 | SMS 26 2 I | |
C | 9 10 11 | SMS 26 3 I | |
C | 12–16 | SMS 26 4 I | |
C | 17 18 19 | SMS 26 5 I | |
C | 20 21 22 | SMS 26 6 I | |
C | 23–27 | SMS 26 7 I | |
C | 28 29 30 | SMS 26 8 I | |
C | 31 32 33 | SMS 26 9 I | |
C | 34 35 | SMS 26 10 I | |
C | 36–40 | SMS 26 11 I | |
C | 41–45 | SMS 26 12 I | |
C | 46 47 48 | SMS 26 13 I | |
C | 49 50 51 | SMS 26 14 I |